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Wladimir Gelfand: »Deutschland Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten.« (Oktober, 2005)



Titel: TITEL

»14.1. 1945: 4.50 Uhr morgens. Draußen herrscht noch undurchdringliche Finsternis, und der Fritz setzt uns mit wütenden Angriffen zu....Es ist die Hölle: Ringsum donnern die Geschosse, heulen, pfeifen und bellen, und du sitzt da, zwischen Leben und Tod, und kannst nur warten, wie das Schicksal, das ja schon einige male in dein Leben eingegriffen hat, entscheiden wird....Der Deutsche ist ein Vollidiot und feuert. Soll er doch. Unsere Beobachter werden anhand der Blitze seine Feuerstellungen ausmachen, und dann werden unsere Kanonen dort alles ausradieren...«

Der 21jährige sowjetische Leutnant Wladimir Gelfand hielt diese Gedanken fest, während er im 1052. Schützenregiment der Roten Armee südlich von Warschau einen Granatwerferzug befehligte, um gen Westen vorzustoßen und das nationalsozialistische Deutschland endgültig zu besiegen. Die authentischen, sehr persönlichen Aufzeichnungen, Notizen und Briefe Wladimir Gelfands, die nun verdichtet als Deutschland Tagebuch im Aufbau Verlag vorliegen, ermöglichen einen Einblick in die Erlebnisse und Gedankenwelt eines Offiziers der Roten Armee. Gelfand versteht sich als aufrichtiger Chronist. In seinen Aufzeichnungen hält er den militärischen Alltag, dem er offensichtlich nicht viel abgewinnen kann, fest. Er beschreibt das Erleben von Kameradschaft unter den Soldaten, aber ehrlicherweise auch das Gegenteil, wie Neid, Streitereien, Verleumdungen, Diebstahl untereinander. Von seinen Vorgesetzten in der Armee ist er enttäuscht, er fühlt sich bei Auszeichnungen übergangen, sieht sich als Spielball ihrer Machtgelüste.

Auch wenn diese Ungerechtigkeiten, sogar Morddrohungen werden ausgesprochen, offensichtlich auf antisemitischen Ressentiments gegenüber der jüdischen Herkunft Gelfands beruhen, führt er selbst diese Benachteiligungen auf die Dummheit, Rohheit und Intellektuellenfeindlichkeit seiner Umgebung zurück. Das scheint typisch für den Literaten und Schöngeist Gelfand: er beschreibt die Ereignisse ehrlich und ohne Scheu, auch Unschönes oder Grausames wird benannt, gleichzeitig mangelt es ihm an der Fähigkeit, das Erlebte in einen größeren gesellschaftspolitischen Rahmen zu stellen.

Im April 45 trifft er zufällig auf eine junge Frau, die Opfer einer Gruppenvergewaltigung durch Soldaten der Roten Armee geworden ist und darunter leidet. Gelfand ist voller Mitgefühl, mehr aber auch nicht, er reflektiert diese sexualisierte Gewalt in keinster Weise. Er, der sich im Frühjahr 1942 freiwillig zur Roten Armee gemeldet, die Brutalität des Krieges persönlich erlebt hat und weiß, das ein Großteil seiner Verwandten von den Nationalsozialisten in Gaswagen ermordet worden ist, will nach dem Sieg nur noch schnell nach hause. Im Juni 1945 schreibt er der Mutter, dass ihm »das Militärleben ... überhaupt nicht gefällt – alles quält und bedrückt mich hier«.