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Wladimir Gelfand: »Deutschland Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten.« (Oktober, 2005) (Teil 2)



Der Sieger Gelfand leidet unter dem strengem Reglement des Militärs. Wie viele andere unterwirft er sich nicht der Disziplin und nimmt sich persönliche Freiheiten heraus, er dehnt Dienstfahrten aus und organisiert auf dem Schwarzmarkt. Jenseits der familiären und gesellschaftlichen Kontrolle bietet sich ihm, dem jungen, gutaussehendem Mann, die Möglichkeit sexueller Kontakte sowohl mit russischen wie auch mit deutschen Frauen. Gelfand scheint keine Gewalt anzuwenden, reflektiert aber auch nicht seine machtvolle Position als Besatzer gegenüber seinen Bekanntschaften. Die sexuellen Abenteuer führen nicht nur bei ihm zur Gonorrhöe und damit zu einer unangenehmen Behandlung im Krankenhaus.
Am 10. September 1946 wird Gelfand endlich demobilisiert. Er holt er das Abitur nach und studiert Literatur. Seinen Lebensunterhalt verdient er dann allerdings als Berufsschullehrer in Perm. Erst 6o Jahre alt stirbt er plötzlich, ohne seinen geplanten großen Kriegsroman geschrieben zu haben.

Gelfands Aufzeichnungen können und sollten sicherlich nicht verallgemeinert werden. Das Tagebuch ist ein persönliches und dadurch ein seiner Einzigartigkeit so spannend und aufschlussreich: ein kriegsmüder, lebenshungriger, idealistischer junger Mann, Leutnant der Roten Armee dokumentiert, was ihn während und unmittelbar nach dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland bewegt. Nicht von Hass oder Wut geleitet, was zu verstehen wäre, sondern neugierig geht er auf die deutsche Kultur und die Bevölkerung zu. Inmitten des Chaos und der Zerstörung entdeckt Gelfand neue Freiheiten wie z.B. das Fotografieren oder das Radfahren für sich: dieser Besatzer wirkt sehr menschlich, eine interessante Sicht auf ein Mitglied der Roten Armee, auch wenn der historische Kenntnisstand über die Rote Armee, das Verhalten ihrer Soldaten und Offiziere noch viel zu gering ist.

Wladimir Gelfand, Deutschland Tagebuch 1945-1946. Aufzeichnungen eines Rotarmisten. Aufbau Verlag, 2005, 357 S., 22.90 Euro

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