»Wenn ich von der Grundschule heimkam, saß meine Mutter am Küchentisch, schrieb Zahlen in ihr Haushaltsbuch und seufzte. Es war ein kariertes Schulheft mit kartoniertem Deckel, rostrot oder orange. Es war ein Seufzer, der besagte: Das Geld wird nicht reichen. Doch das Geld, das meine Mutter auf Ausgaben verteilte, zu Tabellen ordnete und in Kolonnen zwang, indem sie ihre Einkäufe täglich Posten für Posten vom Kassenbon in das Buch übertrug, reichte immer.«
Michael Wildenhain gelingt in seinem neuem Roman wie schon im Zitat eine fast vergessene Zeit in Erinnerung zu rufen, bildhaft und charmant. Die bzw. der Leser/in fühlt sich in diese Küche zurück versetzt, noch keine moderne Einbauküche aber alles tipp topp sauber, vielleicht ein wenig eng. Die allerschlechtesten Zeiten sind vorbei, das Geld reicht eben. Und sicherlich hat es einen ganz eigenen Reiz, sich dieses angenehmen Umstandes mit handschriftlich festgehaltenen Zahlen immer wieder erneut zu versichern, sicherlich mit gespitztem Bleistift. Im Zeitalter von Laptop und TV-shopping kaum mehr vorstellbar.
Wildenhains Geschichte spielt in Berlin, einer geteilten Stadt, in der es erst keine Mauer, aber unterschiedliche deutsche Staaten, dann eine Mauer und immer noch unterschiedliche deutsche Staaten und schließlich dann keine Mauer und ein einziges Deutschland gibt.
Und da gibt es eine Familie, deren Teile vor und während der Mauer in unterschiedlichen Teilen dieser Großstadt leben. Der Kontakt wird aufrecht erhalten, indem die Westler die Ostler besuchen, bis eines Tages die Willkür der Grenzbeamten diesen innerfamiliären Grenzverkehr beenden. Ein Rahmen, in dem das alltägliche Leben, wie es das eben so tut, einfach so vor sich hin läuft.
Allerdings, das bemerkt der kindliche Ich Erzähler recht schnell, vieles hinter oberflächlich aufrecht erhaltenen Kontakten verborgen liegt.
Alle wissen Bescheid, niemand redet darüber. Da gibt es eine immer wieder gern erzählte Geschichte mit einem Vogel und ein Foto im elterlichen Schlafzimmer, ein Fremder taucht in der Familiegeschichte immer wieder auf, das sind die spärlichen Ausgangspunkte einer Entdeckungsreise der deutsch-deutschen Beziehungen, die hier sehr persönlich und anschaulich aufgerollt werden.
Wildenhain gelingt ein Bogen von den doch nicht so wilden Anfangsjahren der 60er zurück zum Zweiten Weltkrieg bis in die jüngste Vergangenheit, ein authentisches Zeitporträt, das fast sinnlich erfühlt werden kann: Deutsch-deutsche Ängste, kleinkarierte Beamten, muffige Rathäuser, sterile Krankenhäuser, eine düstere Untergrundbahn und statt MP3 tragbare Plattenspieler.
Weder die DDR-Grenzer, noch die eigene Mutter scheinen Gefallen an dem simplen, dennoch sinnlichen Sommerhit »Je t`aime« zu haben. Am Ende weiß der Ich-Erzähler zwar einiges mehr über die eigene Sippe, ob es allerdings nutzt und irgendeine Frage überhaupt entscheidend war und ist, wer weiß.
Wildenhains Roman ist äußerst atmosphärisch, gleichzeitig leicht und ruhig, ein lesenswertes, detailreiches und liebevolles Zeitporträt, das auch ohne den fremden Mann ausgekommen wäre.
Michael Wildenhain, »Russisch Brot«, Klett-Cotta Verlag, 271 S., 2005, 18,50 Eurobuch_eulenspiegel@gmx.de per Mail bestellen]