»So sind wir nicht, schrie es in mir auf. So sind wir nicht. »A.L ist Überlebender«, hörte ich und ich dachte, dass dieses Bild des Überlebenden ein falsches Bild war. Ein Szenenbild, ein Vorstellungsbild zur Einschläferung des Grauen. Nie ist mein Vater ein Überlebender gewesen. Immer nur das: (...) ein Lebender,« so Gila Lustiger über ihren Vater. Arno Lustiger, der Auschwitz und den Todesmarsch durch Zufall überlebte, blieb nach dem Ende des Holocaust in Deutschland. Es ist auch sein Verdienst, dass der jüdische Widerstand gegen das Hitlerregime oder gegen die faschistische Diktatur Francos in Spanien nicht in Vergessenheit geraten sind. Durch zahlreiche Gespräche bereits in den faschistischen Lagern und spätere Interviews mit jüdischen Überlebenden des Holocaust trug er dazu bei, das Vorurteil der Passivität der Juden und JüdInnen zu widerlegen.
Gila Lustiger hinterfragt dieses offizielle Bild ihres Vaters in einer sehr persönlichen Art und Weise. Sie bearbeitet in ihrem neuem Roman So sind wir nicht die große, sondern die kleine intime Welt der eigenen Familie, die eingewoben war und ist in historische Ereignisse wie den Holocaust, die Befreiung des nationalsozialistischen Deutschlands durch die Allierten, die (illegale) Auswanderung nach Palästina, die Staatsgründung Israels. Gila Lustiger versucht hinter die offiziellen Familienlegenden, den Lücken der offiziellen Familienchronik zu kommen. Ausgangpunkte für ihre Erinnerungsarbeit sind profane Gegenstände: Zeitungen, die ihr Vater jederzeit und jederorts durcharbeitet, ein Briefbeschwerer, den die Großmutter fast wie eine Reliquie aufbewahrt wird oder Fotos, die in irgendwelchen Schachteln eher unachtsam aufbewahrt werden. Welche Wahrheit sucht ihr Vater in den Zeitungen, in denen vom Gefühl bereinigt über die Ereignisse in der Welt scheinbar objektiv berichtet wird, sind das Elend und die Dummheit nur so erträglich? Was sieht die Großmutter in dem Briefbeschwerer, das einzige Relikt einer europäischen Vergangenheit, die vollständig geplündert und ausgelöscht wurde? Was bedeutete es vor diesem Hintergrund, den israelischen Staat mit aufzubauen, die Staatsgründung zu erleben? Und dann wieder ganz profan: Darf mensch aus Furcht vor Raketenangriffen oder Terroranschlägen die Reise mit den eigenen Kindern nach Israel immer wieder verschieben, obwohl die eigenen Familienangehörigen heldenhaft im gerade zerstörtem Supermarkt einkaufen, im angegriffenem Bistro Pizza essen?
Im ersten Teil ihres Romans lässt sich Gila Lustiger auf die eigenen Kindheitserinnerungen ein, spürt ihnen nach, füllt phantasievoll tradierte Lücken. Es gelingt ihr, ein atmosphärisch dichtes, facettenreiches Bild zu entwerfen, in dem auch Widersprüchliches Platz findet, Fragen an die Familiengeschichte entwickelt werden. Im zweiten Teil des Romans ändert sich Stil und Perspektive. Während einer eher öden Party stellt sich die Autorin den spitzfindigen Fragen und redseligen Ausschweifungen einer guten Freundin. Die will sehr genau wissen, was sich hinter den Dingen verbirgt, die intimen Empfindungen und persönlichen Einschätzungen der Autorin kennen lernen. Ist die historische Tragödie auch eine persönliche , wo findet das Banale, allzu menschliche angesichts Tragödien und Triumphen seinen Platz?