Webwecker Bielefeld: »Das wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind« (22.11.2006)

»Das wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind« (22.11.2006)



Einer der letzten Überlebenden des Sonderkommandos von Auschwitz: Henryk Mandelbaum


Von Manfred Horn

»Ich habe die schrecklichsten Sachen der Welt gesehen«, sagt Henryk Mandelbaum, und fügt an: »Ich wünsche nicht einmal meinem größten Feind, dass zu sehen oder machen zu müssen«. Henryk Mandelbaum war einer von denjenigen, die im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau die Leichen seiner Mithäftlinge verbrennen musste. Er musste die Türen der Gaskammern öffnen und die Leichen zu den Verbrennungsöfen oder zur Grube schleppen. Henryk Mandelbaum ist einer der letzten Überlebenden des Sonderkommandos Auschwitz.

Am Sonntag Vormittag sprach er vor rund 250 Zuhörern, die in den Historischen Saal der Ravensberger Spinnerei gekommen waren. Eingeladen hatten die Initiatoren einer Ausstellung, die sich zum sein Leben dreht und die noch bis zum 17. Dezember im Kleinen Saal der Volkshochschule zu sehen ist. Mandelbaum sprach in Deutsch. So wurden seine Schilderungen eindringlicher. Die Übersetzerin nehmen ihm folgte aufmerksam, jederzeit bereit. Doch Mandelbaum wusste sich verständlich zu machen, auch wenn manches Detail der Fantasie der Zuhörer überlassen blieb.

Der 84-jährige Henryk Mandelbaum, der heute in Gliwice lebt, jener Stadt in Südpolen, die traurige Berühmtheit erlangte, als Hitlers Armeen sie am 9. September 1939 überfielen und damit den zweiten Weltkrieg eröffneten, berichtete vor allem über seine Zeit in Auschwitz. Zuvor aber erzählte er von der Zeit davor: Ab 1941 mussten er und seine Familie als Juden im Ghetto leben. Henryk Mandelbaum jedoch arbeitete außerhalb. Er war das älteste Kind und fühlte sich verpflichtet. So schuftete er in einer Steingrube, klaute Kohle und verdingte sich bei Bauern. »Ich hatte sieben Berufe, mein achter war die Armut«, sagt Mandelbaum. Die Ergebnisse seiner Arbeit lieferte er bei seiner Familie ab. Früh habe er schon von den Vernichtungslagern gehört, seinen Eltern aber nichts erzählt, um sie nicht zu beunruhigen. Am 1. September1943 dann wurde seine Familie aus dem Ghetto in Sosnowiec nach Auschwitz deportiert – sie wurde anschließend dort ermordet. Henryk Mandelbaum jedoch gelang die Flucht unmittelbar vor der Räumung des Ghettos.


Unterschlupf bei einem SA-Mann

Er schlug sich durch so gut es ging. Bei Bauern in der Umgebung fand er Unterschlupf und handelte illegal im Auftrag der Bauern mit deren Lebensmitteln im Ghetto. Vier Wochen fand er sogar Unterschlupf bei einem SA-Mann. Der wohnte in der Nähe des Ghettos. Auf dem Weg zur Arbeit hatte Mandelbaum ihn oft gesehen – und gegrüßt. Und er SA-Mann hatte zurückgegrüßt. Da dachte Mandelbaum: »Dieser Mensch muss anders sein als die anderen«. Als die Räumung des Ghettos anlief, ging er zu seinem Haus. Und der SA-Mann und seine Familie versteckten ihn wirklich um noch nicht fertiggebauten zweiten Stock des Hauses. Da es noch keine Treppe zum zweiten Stock gab, stellte die Frau des Hauses eine Leiter an und reichte ihm das Essen. Irgendwann wurde es dem SA-Mann zu heiß, und Mandelbaum ging zu den Bauern. Ein Freund jedoch verpfiff ihn, und Mandelbaum wurde von der Polizei verhaftet, als er gerade in Sosnowiec auf eine Straßenbahn wartete. Den SA-Mann und die Bauern verriet Mandelbaum nicht, erzählte der Gestapo stattdessen, er hätte in einem kleinen unbewohnten Schloss Unterschlupf gefunden.

Ende April 1944 traf er dann mit einem Gefangenentransport in Auschwitz ein. Von nun an rechnete er mit seinem Ende, und setzte gleichzeitig alles daran, zu überleben. Er kam für einige Wochen ins Quarantänelager. »Als ich dort ankam, hatte ich fürchterlichen Hunger. Noch heute esse ich sehr gut«, erzählt Mandelbaum. »Doch damals ist mir der Hunger schnell vergangen«. Am Eingang des Quarantäneblocks dampfte eine riesige Suppenschüssel, doch gegenüber in einem kleinen Raum sah Mandelbaum den ersten Haufen Leichen. Es sollten viele folgen.

Ein SS-Mann selektierte ihn zum Sonderkommando. Mandelbaum trug fortan zivil mit einem Stoffstreifen auf dem Rücken. Er durfte sich wie alle Häftlinge des Sonderkommandos täglich waschen, im Gegensatz zu den anderen Häftlingen. Es waren kleine Privilegien, die die Mitglieder des Sonderkommandos bei der Stange halten sollten. Doch eigentlich hatten die SS-Männer dies gar nicht nötig: Wer seinen Dienst im Sonderkommando quittierte, kam selbst in die Gaskammer.


Die schrecklichsten Monate seines Lebens

Die folgenden Monate waren die schrecklichsten im Leben von Henryk Mandelbaum. »Nach meinem ersten Arbeitstag wollte ich nicht mehr leben«, sagt er heute. »Ich war nicht mehr wie gestern, nur die Sterne waren wie gestern«, wird er im Ausstellungskatalog zitiert. »Nur die Sterne waren wie gestern«, so heißt auch die Ausstellung. Auschwitz-Birkenau wurde zu einem reinen Vernichtungslager. Einige wurden zur Arbeit aussortiert, die meisten von der SS direkt in die Gaskammern getrieben. Dort starben sie einen qualvollen Tod. Mandelbaum musste als Mitglied des Sonderkommandos die Türen der Gaskammern öffnen. Er sah die verquollenen Menschen, mit schrecklichen Gesichtern, aus denen Erbrochenes mit Blut rann.

Unter Aufsicht der SS musste er dann die Leichen durchsuchen, alle Körperöffnungen waren auf Wertgegenstände abzutasten. »Immer wenn die SS-Männer weggeguckt haben, haben wir das nicht gemacht. Aber sie schauten nicht oft weg«, sagt Mandelbaum. »Aber wenn es doch mal gelang, war das für uns eine große Sache«. Er musste wie die anderen Angehörigen des Sonderkommandos auch, eine bunt gewürfelte Truppe von rund 800 Mann, die Leichen dann zu den Krematorien zerren.  Mit bloßen Händen. Mandelbaum knotete sich aus Hemden Seile, um die Leichen besser ziehen zu können. »Tote sind schwer, wie ein Stück Blei«, sagt er.

Als die Krematorien nicht mehr ausreichten – im Sommer 1944 wurden monatlich rund 100.000 Juden vergast – ging die SS dazu über, die Leichen in offenen Gruben verbrennen zu lassen. »Das war unsere Arbeit, ganz normale Arbeit«, sagt Mandelbaum. Arbeit ist für ihn ein wichtiges Wort, um seine Taten überhaupt fassbar zu machen. Mandelbaum arbeitet bis heute weiter, wenn er die Menschen über die Ereignisse in Auschwitz-Birkenau aufklärt. Ereignisse, die ihn nie mehr losgelassen haben. Auch an der Grube hat Mandelbaum gestanden, das abgetropfte Fett von Leichen hat er über das Feuer gegossen, damit es besser brennt. Er hat die Knochen der Leichen zerstampft »wie Salz oder Mehl«, hat den Leichen die Haare abgeschnitten. »Keine Hilfe ist gekommen«, sagt er heute, »weder von oben, noch von der Seite noch von unten«.


Flucht vom Todesmarsch

Anfang 1945 dann rückte die Front näher. Mandelbaum fragte sich, was mit ihm und den anderen aus dem Sonderkommando passieren würde. Sie wussten schließlich Bescheid und konnten der Nachwelt Zeugnis geben. Die SS war sich offenbar nicht einig oder es gab keinen Befehl, jedenfalls gingen die Überlebenden des Sonderkommandos mit auf den Todesmarsch. Mandelbaum nutzte diesen, um zu flüchten. Er macht in einem günstigen Moment einen Schritt zur Seite, auch weil er weiß, dass dies seine einzige Chance ist, zu überleben. Seine Familie überlebte bis auf eine Schwester nicht.

Bereits kurz nach Kriegsende berichtete Mandelbaum einer Kommission, die die Verbrechen in Auschwitz untersuchte, von seinen Erlebnissen. Ansonsten versuchte er zunächst ein normales Leben zu führen. Er heiratete und arbeitete in einer großen staatlichen Vertriebsorganisation, belieferte Geschäfte mit Lebensmitteln. Er züchtete Schäferhunde und Blaufüchse, arbeitete einige Jahre als Taxifahrer. Seit vielen Jahren ist Mandelbaum auch immer wieder in Auschwitz um Besuchergruppen über das Gelände zu führen. Seinen Vortrag endete er mit einem schlichten Satz: »Jeder Mensch auf der Welt hat ein Recht zum Leben«.


Mehr Informationen zur Ausstellung, die noch bis zum 17. Dezember im Kleinen Saal der Ravensberger Spinnerei zu sehen ist, und zum Begleitprogramm in diesem WebWecker-Artikel



Mandelbaum im Gespräch in der Ausstellung über sein Leben