Von Manfred Horn
»Ich
habe die schrecklichsten Sachen der Welt gesehen«, sagt Henryk Mandelbaum, und
fügt an: »Ich wünsche nicht einmal meinem größten Feind, dass zu sehen oder
machen zu müssen«. Henryk Mandelbaum war einer von denjenigen, die im
Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau die Leichen seiner Mithäftlinge verbrennen
musste. Er musste die Türen der Gaskammern öffnen und die Leichen zu den
Verbrennungsöfen oder zur Grube schleppen. Henryk Mandelbaum ist einer der
letzten Überlebenden des Sonderkommandos Auschwitz.
Am
Sonntag Vormittag sprach er vor rund 250 Zuhörern, die in den Historischen Saal
der Ravensberger Spinnerei gekommen waren. Eingeladen hatten die Initiatoren
einer Ausstellung, die sich zum sein Leben dreht und die noch bis zum 17.
Dezember im Kleinen Saal der Volkshochschule zu sehen ist. Mandelbaum sprach in
Deutsch. So wurden seine Schilderungen eindringlicher. Die Übersetzerin nehmen
ihm folgte aufmerksam, jederzeit bereit. Doch Mandelbaum wusste sich
verständlich zu machen, auch wenn manches Detail der Fantasie der Zuhörer
überlassen blieb.
Der
84-jährige Henryk Mandelbaum, der heute in Gliwice lebt, jener Stadt in
Südpolen, die traurige Berühmtheit erlangte, als Hitlers Armeen sie am 9.
September 1939 überfielen und damit den zweiten Weltkrieg eröffneten,
berichtete vor allem über seine Zeit in Auschwitz. Zuvor aber erzählte er von
der Zeit davor: Ab 1941 mussten er und seine Familie als Juden im Ghetto leben.
Henryk Mandelbaum jedoch arbeitete außerhalb. Er war das älteste Kind und
fühlte sich verpflichtet. So schuftete er in einer Steingrube, klaute Kohle und
verdingte sich bei Bauern. »Ich hatte sieben Berufe, mein achter war die
Armut«, sagt Mandelbaum. Die Ergebnisse seiner Arbeit lieferte er bei seiner
Familie ab. Früh habe er schon von den Vernichtungslagern gehört, seinen Eltern
aber nichts erzählt, um sie nicht zu beunruhigen. Am 1. September1943 dann
wurde seine Familie aus dem Ghetto in Sosnowiec nach Auschwitz deportiert sie
wurde anschließend dort ermordet. Henryk Mandelbaum jedoch gelang die Flucht
unmittelbar vor der Räumung des Ghettos.
Unterschlupf bei einem SA-Mann
Er
schlug sich durch so gut es ging. Bei Bauern in der Umgebung fand er
Unterschlupf und handelte illegal im Auftrag der Bauern mit deren Lebensmitteln
im Ghetto. Vier Wochen fand er sogar Unterschlupf bei einem SA-Mann. Der wohnte
in der Nähe des Ghettos. Auf dem Weg zur Arbeit hatte Mandelbaum ihn oft gesehen
und gegrüßt. Und er SA-Mann hatte zurückgegrüßt. Da dachte Mandelbaum:
»Dieser Mensch muss anders sein als die anderen«. Als die Räumung des Ghettos
anlief, ging er zu seinem Haus. Und der SA-Mann und seine Familie versteckten
ihn wirklich um noch nicht fertiggebauten zweiten Stock des Hauses. Da es noch
keine Treppe zum zweiten Stock gab, stellte die Frau des Hauses eine Leiter an
und reichte ihm das Essen. Irgendwann wurde es dem SA-Mann zu heiß, und
Mandelbaum ging zu den Bauern. Ein Freund jedoch verpfiff ihn, und Mandelbaum
wurde von der Polizei verhaftet, als er gerade in Sosnowiec auf eine
Straßenbahn wartete. Den SA-Mann und die Bauern verriet Mandelbaum nicht,
erzählte der Gestapo stattdessen, er hätte in einem kleinen unbewohnten Schloss
Unterschlupf gefunden.
Ende
April 1944 traf er dann mit einem Gefangenentransport in Auschwitz ein. Von nun
an rechnete er mit seinem Ende, und setzte gleichzeitig alles daran, zu
überleben. Er kam für einige Wochen ins Quarantänelager. »Als ich dort ankam,
hatte ich fürchterlichen Hunger. Noch heute esse ich sehr gut«, erzählt
Mandelbaum. »Doch damals ist mir der Hunger schnell vergangen«. Am Eingang des
Quarantäneblocks dampfte eine riesige Suppenschüssel, doch gegenüber in einem
kleinen Raum sah Mandelbaum den ersten Haufen Leichen. Es sollten viele folgen.
Ein
SS-Mann selektierte ihn zum Sonderkommando. Mandelbaum trug fortan zivil mit
einem Stoffstreifen auf dem Rücken. Er durfte sich wie alle Häftlinge des
Sonderkommandos täglich waschen, im Gegensatz zu den anderen Häftlingen. Es
waren kleine Privilegien, die die Mitglieder des Sonderkommandos bei der Stange
halten sollten. Doch eigentlich hatten die SS-Männer dies gar nicht nötig: Wer
seinen Dienst im Sonderkommando quittierte, kam selbst in die Gaskammer.
Die schrecklichsten Monate seines Lebens
Die
folgenden Monate waren die schrecklichsten im Leben von Henryk Mandelbaum.
»Nach meinem ersten Arbeitstag wollte ich nicht mehr leben«, sagt er heute.
»Ich war nicht mehr wie gestern, nur die Sterne waren wie gestern«, wird er im
Ausstellungskatalog zitiert. »Nur die Sterne waren wie gestern«, so heißt auch
die Ausstellung. Auschwitz-Birkenau wurde zu einem reinen Vernichtungslager.
Einige wurden zur Arbeit aussortiert, die meisten von der SS direkt in die
Gaskammern getrieben. Dort starben sie einen qualvollen Tod. Mandelbaum musste
als Mitglied des Sonderkommandos die Türen der Gaskammern öffnen. Er sah die
verquollenen Menschen, mit schrecklichen Gesichtern, aus denen Erbrochenes mit
Blut rann.
Unter
Aufsicht der SS musste er dann die Leichen durchsuchen, alle Körperöffnungen
waren auf Wertgegenstände abzutasten. »Immer wenn die SS-Männer weggeguckt
haben, haben wir das nicht gemacht. Aber sie schauten nicht oft weg«, sagt
Mandelbaum. »Aber wenn es doch mal gelang, war das für uns eine große Sache«.
Er musste wie die anderen Angehörigen des Sonderkommandos auch, eine bunt
gewürfelte Truppe von rund 800 Mann, die Leichen dann zu den Krematorien
zerren. Mit bloßen Händen. Mandelbaum knotete sich aus Hemden Seile, um die
Leichen besser ziehen zu können. »Tote sind schwer, wie ein Stück Blei«, sagt
er.
Als
die Krematorien nicht mehr ausreichten im Sommer 1944 wurden monatlich rund
100.000 Juden vergast ging die SS dazu über, die Leichen in offenen Gruben
verbrennen zu lassen. »Das war unsere Arbeit, ganz normale Arbeit«, sagt
Mandelbaum. Arbeit ist für ihn ein wichtiges Wort, um seine Taten überhaupt
fassbar zu machen. Mandelbaum arbeitet bis heute weiter, wenn er die Menschen
über die Ereignisse in Auschwitz-Birkenau aufklärt. Ereignisse, die ihn nie
mehr losgelassen haben. Auch an der Grube hat Mandelbaum gestanden, das
abgetropfte Fett von Leichen hat er über das Feuer gegossen, damit es besser
brennt. Er hat die Knochen der Leichen zerstampft »wie Salz oder Mehl«, hat den
Leichen die Haare abgeschnitten. »Keine Hilfe ist gekommen«, sagt er heute,
»weder von oben, noch von der Seite noch von unten«.
Flucht vom Todesmarsch
Anfang
1945 dann rückte die Front näher. Mandelbaum fragte sich, was mit ihm und den
anderen aus dem Sonderkommando passieren würde. Sie wussten schließlich
Bescheid und konnten der Nachwelt Zeugnis geben. Die SS war sich offenbar nicht
einig oder es gab keinen Befehl, jedenfalls gingen die Überlebenden des
Sonderkommandos mit auf den Todesmarsch. Mandelbaum nutzte diesen, um zu flüchten.
Er macht in einem günstigen Moment einen Schritt zur Seite, auch weil er weiß,
dass dies seine einzige Chance ist, zu überleben. Seine Familie überlebte bis
auf eine Schwester nicht.
Bereits
kurz nach Kriegsende berichtete Mandelbaum einer Kommission, die die Verbrechen
in Auschwitz untersuchte, von seinen Erlebnissen. Ansonsten versuchte er
zunächst ein normales Leben zu führen. Er heiratete und arbeitete in einer
großen staatlichen Vertriebsorganisation, belieferte Geschäfte mit
Lebensmitteln. Er züchtete Schäferhunde und Blaufüchse, arbeitete einige Jahre
als Taxifahrer. Seit vielen Jahren ist Mandelbaum auch immer wieder in
Auschwitz um Besuchergruppen über das Gelände zu führen. Seinen Vortrag endete
er mit einem schlichten Satz: »Jeder Mensch auf der Welt hat ein Recht zum
Leben«.
Mehr Informationen zur Ausstellung, die noch bis zum 17. Dezember im Kleinen Saal der Ravensberger Spinnerei zu sehen ist, und zum Begleitprogramm in diesem WebWecker-Artikel