»»Ich sterbe,« sagte Robin, an einem Abend vor Jahren. »Ich
sterbe, wenn das Kleid nicht fertig ist««, so lautet der Eingangssatz zur
Erzählung »Tricks«, des gleichnamigen neuen Titels der kanadischen Autorin
Alice Munro, der kürzlich im S. Fischer Verlag erschien. Alice Munro lebt in
Ontario und British Columbia, im S. Fischer Verlag wurden bereits von ihr
veröffentlicht: »Der Traum meiner Mutter«, »Himmel und Hölle« und »Die Liebe einer Frau« welches wie auch
»Tricks« u.a. mit dem Giller Prize ausgezeichnet wurde.
Im Erzählband »Tricks« finden sich Kurzgeschichten, die alle
im weitesten Sinne um das Thema Aufbrechen, Ausreißen kreisen, im Original
lautet der Titel auch dementsprechend »Runaway«.
Die zitierte Robin benötigt das Kleid unbedingt für den
morgigen Tag. »Morgen, das war ihr Tag drüben in Stratford, und sie fühlte sich
schon außerhalb von Joannes Reichweite.« Joanne ist die vier Jahre ältere
Schwester, seit frühester Kindheit leidet sie unter extremen Asthma. Jetzt
dreissig jährig, ist sie gezeichnet von ihrer Leidensgeschichte, körperlich
eingeschränkt, irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsenwerden steckengeblieben.
Joanne verhält sich zynisch, fast grausam gegenüber ihrer jüngeren Schwester,
sie scheint sie zu verachten. Eine äußerst ungünstige Voraussetzung für ein
gemeinsam zu verbringendes Leben, denn Robin fühlt sich selbstverständlich für
ihre Schwester Joanne verantwortlich. Und dann sieht Joanne in Stratford Shakespeares »Wie es euch gefällt«, der Titel scheint Programm und etwas völlig Unerwartetes
trifft ein, Joanne lernt einen Mann kennen, die beiden verlieben sich
ineinander, das Leben bietet eine Chance, zeigt eine neue, vorher
unvorstellbare Perspektive.
Wer glaubt, jetzt wird es kitschig, irrt. Alice Munro gibt
der Erzählung eine nahezu tragische Wendung... , eine vermutliche Ursache mag
in der Tatsache liegen, dass das besagte Kleid doch nicht rechtzeitig fertig
war.
Nicht nur in dieser kurzen Erzählung gelingt Alice Munro ein
ganz wesentliches, wenn auch subtiles Porträt ihrer Hauptfiguren. Wir erfahren
ihre Träume und Wünsche und ihre sehr individuelle eigene Wahrnehmung der
Realisation dieser Träume. Spannend ist die Auslotung der Charaktere in Hinblick
auf deren Deutungen oder Beharren auf Ansichten: Erfolg oder Misserfolg sind nicht diametral entgegengesetzt,
sondern werden, so scheint es der menschlichen Natur zu entsprechen, nach
innerer existentieller Notwendigkeit gleichgesetzt und umgedeutet. Exzentrik,
Trotz und Selbstbetrug, auch das dumpfe Gefühl von Enttäuschung oder verpasster
Chance liegen dicht beieinander.
Alice Munros Kurzgeschichten könnten Grundlage eines umfassenden Romans
sein, so gehaltvoll sind sie, unzweifelhaft eine gelungene Annäherung an das
Innerste ihre weibliche Protagonisten in der kurzen Form der Erzählung. Jede
einzelne der acht im Band veröffentlichen Kurzgeschichten bietet
Überraschendes, liest sich gut, macht Geschmack auf mehr.
Alice Munro, Tricks. Acht Erzählungen,
S.Fischer Verlag, 2006, 379 S., Euro
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