Webwecker Bielefeld: Alice Munro: »Tricks« – Acht Erzählungen (September, 2006)

Alice Munro: »Tricks« – Acht Erzählungen (September, 2006)



»»Ich sterbe,« sagte Robin, an einem Abend vor Jahren. »Ich sterbe, wenn das Kleid nicht fertig ist««, so lautet der Eingangssatz zur Erzählung »Tricks«, des gleichnamigen neuen Titels der kanadischen Autorin Alice Munro, der kürzlich im S. Fischer Verlag erschien. Alice Munro lebt in Ontario und British Columbia, im S. Fischer Verlag wurden bereits von ihr veröffentlicht: »Der Traum meiner Mutter«, »Himmel und Hölle« und  »Die Liebe einer Frau« welches wie auch »Tricks« u.a. mit dem Giller Prize ausgezeichnet wurde.

Im Erzählband »Tricks« finden sich Kurzgeschichten, die alle im weitesten Sinne um das Thema Aufbrechen, Ausreißen kreisen, im Original lautet der Titel auch dementsprechend »Runaway«.

Die zitierte Robin benötigt das Kleid unbedingt für den morgigen Tag. »Morgen, das war ihr Tag drüben in Stratford, und sie fühlte sich schon außerhalb von Joannes Reichweite.« Joanne ist die vier Jahre ältere Schwester, seit frühester Kindheit leidet sie unter extremen Asthma. Jetzt dreissig jährig, ist sie gezeichnet von ihrer Leidensgeschichte, körperlich eingeschränkt, irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsenwerden steckengeblieben. Joanne verhält sich zynisch, fast grausam gegenüber ihrer jüngeren Schwester, sie scheint sie zu verachten. Eine äußerst ungünstige Voraussetzung für ein gemeinsam zu verbringendes Leben, denn Robin fühlt sich selbstverständlich für ihre Schwester Joanne verantwortlich. Und dann sieht Joanne in Stratford Shakespeares »Wie es euch gefällt«, der Titel scheint Programm und etwas völlig Unerwartetes trifft ein, Joanne lernt einen Mann kennen, die beiden verlieben sich ineinander, das Leben bietet eine Chance, zeigt eine neue, vorher unvorstellbare Perspektive.

Wer glaubt, jetzt wird es kitschig, irrt. Alice Munro gibt der Erzählung eine nahezu tragische Wendung... , eine vermutliche Ursache mag in der Tatsache liegen, dass das besagte Kleid doch nicht rechtzeitig fertig war.

Nicht nur in dieser kurzen Erzählung gelingt Alice Munro ein ganz wesentliches, wenn auch subtiles Porträt ihrer Hauptfiguren. Wir erfahren ihre Träume und Wünsche und ihre sehr individuelle eigene Wahrnehmung der Realisation dieser Träume. Spannend ist die Auslotung der Charaktere in Hinblick auf deren Deutungen oder Beharren auf Ansichten:  Erfolg oder Misserfolg sind nicht diametral entgegengesetzt, sondern werden, so scheint es der menschlichen Natur zu entsprechen, nach innerer existentieller Notwendigkeit gleichgesetzt und umgedeutet. Exzentrik, Trotz und Selbstbetrug, auch das dumpfe Gefühl von Enttäuschung oder verpasster Chance liegen dicht beieinander.

Alice Munros Kurzgeschichten könnten Grundlage eines umfassenden Romans sein, so gehaltvoll sind sie, unzweifelhaft eine gelungene Annäherung an das Innerste ihre weibliche Protagonisten in der kurzen Form der Erzählung. Jede einzelne der acht im Band veröffentlichen Kurzgeschichten bietet Überraschendes, liest sich gut, macht Geschmack auf mehr.      

Alice Munro, „Tricks“. Acht Erzählungen, S.Fischer Verlag, 2006, 379 S., Euro

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