»Den 9. November habe ich in unserer Wohnung im vierten Stock in der Bornholmer Straße in diesem Zimmer erlebt. Unser Haus war ja das letzte vor der Mauer und die Bornholmer Straße war der Grenzübergang, der zuerst geöffnet wurde. (...) In der Nacht bin ich dann irgendwann aufgewacht, weil es ziemlichen Lärm gab und die Sprechchöre. (...) Aber dann bin ich wieder aufgewacht, weil es neuen Lärm gab, aber diesmal ganz anderen. Autohupen habe ich gehört und Lachen und Tröten. Meine Eltern standen immer noch am Fenster. Und da haben sie mich angeguckt und gesagt: »Die Mauer ist offen, du kannst jetzt in den Westen.« »Ach so«. Ich habe es gar nicht verstanden und bin wieder ins Bett gegangen.«
So unspektakulär beschreibt Marie Krüger, 26 Jahre alt, die Grenzöffnung zwischen den beiden ehemaligen deutschen Staaten. Wie wir heute wissen, ein einschneidender politischer Wendepunkt, der realsozialistische Staat DDR wurde in der Folge abgeschafft und unter die BRD subsumiert. Wie wirkte und wirkt sich diese drastische Zensur auf das individuelle Leben aus, wie gestalten einzelne Akteurinnen vor dem Hintergrund radikaler Veränderungen ihren Alltag, ihr Leben, was sind ihre Träume und was ermöglichen die eigenen Handlungsspielräume?
Im Auftrag des Berliner Frauenzentrums Paula Panke e.V. gingen Ulrike Hänsch, die Herausgeberin dieses Bandes mit elf dokumentierten Interviews, und Eva Schäfer diesen Fragen nach. Sie befragten ostdeutsche Frauen nach ihrer Lebensgeschichte. Die Interviews bieten sicherlich keinen repräsentativen Überblick, sind aber sehr interessant, da die erzählenden Frauen höchst unterschiedlich sind: Sie sind zwischen 26 und 73 Jahre alt, unter ihnen eine Studentin, eine Bäuerin, einen Professorin, eine Rentnerin, sie sind Single oder verheiratet, mit oder ohne Kind.
Diese Frauen ermöglichen einen Einblick in Lebensgeschichten, in denen der Mauerfall entscheidend zu Veränderungen im persönlichen Lebensweg beigetragen hat, mal mehr, mal weniger spektakulär. Spannend zu lesen gerade für Menschen, die nicht aus der ehemaligen DDR stammen, denn die Interviews ermöglichen Zugang zu Lebensrealitäten und gesellschaftlichen Erfahrungen, die, eigentlich unnötig es zu erwähnen, nicht nur negativ waren und Ausgangsbedingungen für das Weitere sind.
Insofern bietet das Buch »für LeserInnen aus Ostdeutschland Identifikationsmöglichkeiten und für LeserInnen aus Westdeutschland ein Kennen lernen von immer noch weitgehend unbekannten Lebenswelten und Lebensgeschichten«, so die Autorinnen. Die Interviews machen deutlich, wie notwendig und aufschlussreich ein gleichberechtigter Austausch der Lebenserfahrungen, geprägt durch gesellschaftliche Umbrüche in Ost und West, aber sicherlich einschneidender für Menschen aus der ehemaligen DDR, wäre.
Insofern regen die dokumentierten Biographien eine weitergehende Auseinandersetzung an, die für ein weiteres gesellschaftliches Miteinander nur bereichernd sein kann. Auch wenn formal der gesellschaftliche Umbruch weitestgehend abgeschlossen scheint, in den individuellen Lebenswegen ist dieser Prozess noch längst nicht am Ende.
Ein Dank an die Frauen, die so bereitwillig und offen Einblicke in ihr Leben, ihre Gedanken gewährt haben. Die Authentizität und Lebendigkeit wird sehr einfühlsam unterstrichen durch die gelungenen Porträts der Fotografin Barbara Dietl. »Jetzt ist eine andere Zeit«, das wird mehr als deutlich.
Ulrike Hänsch, »Jetzt ist eine andere Zeit« Ostdeutsche Frauen erzählen, Ulrike Helmer Verlag, 2005, 200 S., Eurobuch_eulenspiegel@gmx.de per Mail bestellen]