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Kriechstrom im Stadttheater (01.03.2006)





Fotos: Philipp Ottendörfer





Von Manfred Horn

Harter Stoff für all diejenigen, die nicht mit griechischer Mythologie aufgewachsen sind. Wenn Harald Gieche die Bühne betritt und sich vor einem Hasen hinkniet und eine Geschichte erzählt, hat der Zuschauer das Gefühl: Hier versucht jemand schnell viel zu erzählen, um danach das Spiel zu eröffnen. Und was macht der Hase da? Ist er eine Verkleidung einer Göttin – aber warum hängt er später tot an der Wand? Doch der erwartungsfrohe Betrachter täuscht sich: Immer wieder finden sich fette Inseln in der Inszenierung, in denen reichlich herummonologisiert wird. Dann spannt sich ein verbalisierter Bogen auf von Namen, Verhältnissen und Ereignissen, denen zu folgen dem Zuschauer entweder Vorwissen oder hohe Konzentration voraussetzt.

So ist Elektra wahrlich nicht zuvorderst Unterhaltung. Das Stück des griechischen Dichters Euripides, der immerhin über 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung schrieb, wird nur dem zum Krimi, der die Hintergründe begreift. Aber, und das ist sehr angenehm in der Inszenierung von Patrick Schimanski, Elektra wird auch nicht zum Aufklärungsstück umgebogen. Schlüter bietet den Bielefelder Zuschauern keine Erklärung, er erhebt auch nicht den didaktischen Zeigefinger, wie denn Elektra in die Gegenwart zu übersetzen sei. Und er schuf auch kein Werk, um die Bedürfnisse von Bildungsbürgern zu befriedigen, die mit göttlichem Wind in vergangenen Jahrtausenden umhersegeln, während andere stumm und ohne Welle auf ihrem Surfbrett kauern.

Denn zwischen den mit Worten vollgepackten Sprech-Inseln wird tatsächlich auch gespielt. Und hier tauchen die Bilder auf, die zur Interpretation durch den Betrachter einladen. Hier erscheinen die Protagonisten endlich, in ihrer Brüchigkeit und in ihren Widersprüchen. Der gefangene Bote, gespielt von Stefan Hufschmidt, wird verhört. Er ist bis auf die Shorts nackt, sein behaarter und gefüllter Bauch glänzt dem Publikum entgegen. Sein Kopf ist verschwunden unter einer Papiertüte. Wer will, kann hier an die die Gefangenen von Guantanamo denken. Wer will, kann in dem Beschützer von Klytaimestra einen US-Soldaten im Wüsteneinsatz erkennen.

Im Meer des Spiels dann sind auch die Brüche zu erkennen. Denn Euripides hat mit Elektra ein Drama geschrieben, in dem sich Menschen den Göttern zwar verbunden, aber nicht mehr als irdische Anhängsel dieser sehen. Euripides macht den Spalt auf, und der ganze Mensch mit all seinen selbstgebastelten Moralvorstellungen von Schuld und Sühne quillt heraus. Das zweibeinige Wesen ist nicht mehr nur den Göttern verantwortlich, er muss sein Handeln nun auch vor sich selbst und den anderen rechtfertigen können.


Mord auf Befehl der Götter

Im Mittelpunkt steht Elektra. Ulrike Müller, die seit dem Beginn der Spielzeit Mitglied im Ensemble des Theaters Bielefeld ist, hat hier ihre erste große Rolle. Sie spielt eindringlich die unbeirrbare Frau, die getrieben von Rachegelüsten, keinen Zentimeter von ihrem Weg abweicht, ihre Mutter um die Ecke zu bringen. Elektra befleckt sich dabei nicht, sie bleibt weiß. Sie benutzt ihren Bruder Orest, um die Blutrache zu vollziehen. Der ist geplagt von Zweifeln, ob denn das Orakel, das den göttlichen Willen nach Rache befiehlt, hier nicht irrt. Die Mutter Klytainmesta, ganz in schwarz, dargestellt von Therese Bergmann, rechtfertigt ihr Handeln, doch Elektra lässt sich nicht mehr umstimmen. Ihre Mutter hatte vor Jahrzehnten zusammen mit ihrem Geliebten Aigisth den Vater Agamemnon ermordet. Schließlich geht Elektras Plan, den sie als göttlichen Willen verkauft, auf: Beide, Klytainmesta und Aigisth, werden von Orest ermordet.