»Ich sollte vielleicht meine Verkleidung erklären. Es klingt wenig überzeugend, wenn ich sage, dass ich mich deshalb als zwölfjähriger Junge ausgebe, weil ich so aussehe, aber genauso ist es. (...) Nur einem sehr scharfem Beobachter würde es auffallen, dass ich für ein Kind von zwölf Jahren zu viele verblasste Narben habe, einen zu lauernden Blick, und dass ich mir manchmal übers zarte Kinn streiche, als hätte ich mal einen Bart getragen. Aber es sieht niemand so genau hin«, so Max Tivoli, der zu diesem Zeitpunkt im Sandkasten sitzt und anderen Jungen, vermeintliche Altersgenossen, beim Fußballspielen zuguckt. Wie gesagt, niemand würde auf die Idee kommen, dass Max Tivoli eigentlich ein alter Mann ist, der auf ein bewegtes Leben zurückblicken kann.
Sean Greer erzählt tatsächlich eine erstaunliche Geschichte, eben die dieses Max Tivolis, dessen Leben sozusagen rückwärts verläuft: Geboren wird er als Greis, ein verhutzelter, alter, kleiner, eben greisenhafter Körper ausgestattet mit den Fähigkeiten eines Säuglings, im September 1871 in San Francisco. Diese Stadt hat sich mittlerweile etabliert, es gibt eine klare Klassenaufteilung: Grandes und Goldgräber. Die wohlhabenden Eltern von Max gehen bei seiner Geburt von einer schweren Krankheit aus, dem Säugling wird ärztlicherseits die Lebensfähigkeit abgesprochen und doch entwickelt sich das Kind. Im zarten Alter von drei Jahren erkennt Kindermädchen Mary, die im weiteren Leben noch eine Rolle spielen soll, die körperliche Verjüngung des Greises. Die Mutter rät ihrem Sohn, der wohlbehütet heranwächst und sich äußerlich vom uraltem Mann zum gediegenem älterem Herrn mit zunehmenden intellektuellen Fähigkeiten entwickelt, den Rat Sei wofür sie dich halten. Diese Regel befolgt Max strikt. Er lebt so ein ungewöhnliches Leben mit Höhen und Tiefen, weniger Höhen als Tiefen, denn die rückwärtsgelebte Biographie macht es nicht gerade leicht: Äußerlich z.B. ein reifer älterer Herr, der das Leben fast hinter sich hat, innerlich ein pubertierender Sechzehnjähriger, der gerade gar nichts mehr weiß. Immer der falsche Zeitpunkt, die falschen Leute, nie passt etwas richtig zusammen im Leben des Max Tivoli. Nur in der Mitte seines L
ebens entspricht Max (äußerlich und innerlich) sich selbst und kann für kurze Zeit ein normales Leben leben. Andrew Sean Greer lässt Max Tivoli nicht gänzlich einsam bleiben, es gibt einen Freund fürs ganze Leben und Max findet auch die Liebe seines Lebens. Doch die Freundschaft lebt sich einfacher als die Liebe. Max begegnet seiner großen Liebe immer wieder, und bemüht sich immer wieder aufs neue um sie. Allerdings kann er der Angebeteten sein Geheimnis nicht enthüllen und damit fangen die Verwicklungen an. Andrew Sean Greer entwickelt die Geschichte einer sich verfehlenden Liebe, eine Geschichte voller Melancholie, Tragik, Einsamkeit und wenigen glücklichen Momenten. Er findet für diese ungewöhnliche Biographie einen angenehmen und äußerst passenden Tonfall, keinesfalls weinerlich, eher bedauernd, das liest sich angenehm. Schade ist in gewisser Weise, dass diese eigentlich so komplexe Idee einer rückwärtsgelebten Existenz nur an der Liebesgeschichte aufgehangen wird, das Leben bietet doch einiges mehr an Möglichkeiten. Dennoch: eine gut erzählte Geschichte, Lesestoff z.B. für ein verregnetes Wochenende auf dem Sofa...(rk)
Andrew Sean Greer, »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli«. S. Fischer Verlag, 348 S., 19,90 Euro