Da reist eine für eine beschränkte Zeit nach Mexiko, um an ihrem neuen Roman zu schreiben. Ein Hausmädchen sorgt für die alltäglichen Dinge des Lebens: Kochen, Putzen, Wäsche waschen, den Klempner rufen, wenn die Toilette mal wieder verstopft ist. Der Ehemann genießt das besondere Licht und widmet sich ganz seiner Malerei, alles perfekt. Doch Lily Brett plagen diverse Ängste, sie lässt sich durch die kleinste Ruhestörung aus der Fassung bringen. Und dann verspürt sie, die überzeugte Vegetarierin beim allmorgendlichen Joggen plötzlich Heißhunger, geradezu Gier nach gebratenem Ochsenkopf. "Plötzlich hat die Getreidekleie mit Weizenflocken, Joghurt und Rosinen, die mich zu Hause erwartet, nichts Verlockendes mehr. Diese Entwicklung beunruhigt mich." Alles halb so schlimm, so lautete der Titel des letzten Romans von Lily Brett, besitzt dieses Motto nach wie vor Gültigkeit? Am Ende des Mexiko Aufenthaltes kommt die Nachricht über den Verlust ihres Zuhauses in New York: In ihrer Abwesenheit brannte die Wohnung samt Atelier vollständig aus. Nichts bleibt außer Chaos und Zerstörung und die Aufgabe, wieder von vorn anzufangen.
Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren, beide Elternteile überlebten die nationalsozialistischen Lager und wanderten 1948 nach Australien aus, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen. Sie schauten in die Zukunft, nicht zurück. Lily Brett lebt mit der Hypothek, Tochter Holocaust-Überlebender zu sein. Sie muss gleichzeitig die eigene Zukunft aber auch eine Vergangenheit aufbauen. So lebt sie in ihrer Wahlheimat New York zwischen Mexiko und Polen. Fast ebenso überraschend wie die Gier nach Fleisch wird es plötzlich in den unvorhergesehensten Momenten existentiell notwendig, nach Polen zu reisen, Auschwitz -Birkenau zu besuchen und dem Vater mit UPS Wedel- Schokolade, " die Schokolade seiner Kindheit" aus Krakau nach Australien zu schicken.
Lily Brett beschreibt in "Von Mexiko nach Polen" mit dem ihr eigenen Humor die eigenen Marotten, das Leben an sich, die guten aber auch die schmerzhaften Momente. Besonders interessant ist ihr Blick auf den veränderten Alltag in New York unmittelbar nach den Terroranschlägen vom 11. September. Die New Yorker packen zu, lassen sich nicht unterkriegen, schauen nach vorne, ein gängiges Bild, doch Lily Brett bemerkt deutliche Risse in diesem Klischee: "Wie sind so sehr an die Anonymität der Leute um uns herum gewöhnt. An die Unsichtbarkeit derer, die uns umgeben. Die Unsichtbarkeit aufgehoben zu finden, kann ein Schock sein. Deutlich zu erkennen, was andere fühlen."
Fazit: witzig und tiefsinnig, nähert sich die letzte Seite, ist mensch fast traurig, so schnell gelesen zu haben und hofft schon auf einen neuen Titel von Lily Brett.
Lily Brett, Von Mexiko nach Polen, Deuticke Verlag, 2003, 22,90 Euro, 383 S., geb.
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