DokumentationKann ich es mir erlauben, krank zu werden? Was bleibt mir im Alter? Was wird, wenn ich ein Pflegefall werde? Wie und wovon werden unsere Kinder leben? Wie sieht unsere Zukunft als Familie aus? Und wenn ich morgen meine Arbeit verliere, was dann?
Diese Fragen bewegen uns und die Menschen in unserer Kirche. Wir erleben es in unseren Gemeinden und bei Begegnungen an anderer Stelle. Jeder kennt jemanden, der arbeitslos geworden ist. Es gibt - nach Aussagen von Unternehmer/innen und vielen Politiker/innen - nicht ausreichend bezahlbare Arbeit und Arbeitsplätze. Die Verunsicherung über die Zukunft der sozialen Sicherung sitzt tief. Unsere Gesellschaft wird immer älter. Die Kosten für das Gesundheitswesen laufen davon.
In den vergangenen Jahrzehnten ist es uns in Deutschland gelungen, durch staatliche Leistungen und den Aufbau staatlicher Sicherungssysteme diese individuellen Lebensrisiken gemeinschaftlich zu bewältigen. Diese Form des Solidarprinzips wurde immer wieder erkämpft, erhöhte die Lebensqualität und ist ein wesentlicher Faktor für sozialen Frieden und steigerte das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft.
Gegenwärtig erleben wir, dass das Solidarprinzip durch eingeleitete und geplante Gesetzesänderungen (Hartz I bis IV, Umsetzung Agenda 2010) und mit ihm der Sozialstaat immer stärker ausgehöhlt wird. Wir erleben, wie in den Medien die �Faulenzerdebatte� angeheizt wird und wie z.B. Arbeitslose nicht mehr Opfer einer Strukturentwicklung sind, sondern zu Subjekten der Gefährdung der sozialen Sicherungssysteme gemacht werden. Wir erleben, wie sich das Empfinden für Gerechtigkeit und Solidarität verändert und damit demokratische Grundüberzeugungen nachhaltig beschädigt werden.
In einer Situation, in der wir die damit verbundenen Ängste, Verunsicherungen und Konflikte selbst erleben, erinnern wir an die uns verbindende biblische Botschaft. Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe konkretisiert sich in der vorrangigen Option für die Armen, Benachteiligten und Schwachen als Leitmotiv unseres gesellschaftlichen Handelns.
»In der Perspektive einer christlichen Ethik muss darum alles Handeln und Entscheiden in Kirche, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an der Frage gemessen werden, inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt. Dabei zielt die biblische Option für die Armen darauf, Ausgrenzungen zu überwinden und alle am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen. Sie fordert uns dazu auf, die Perspektive der Menschen einzunehmen, die im Schatten des Wohlstands leben und weder sich selbst als gesellschaftliche Gruppe bemerkbar machen können noch eine Lobby haben. Sie lenkt den Blick auf die Empfindungen der Menschen, auf Kränkungen und Demütigungen von Benachteiligten, auf das Unzumutbare, das Menschenunwürdige, auf strukturelle Ungerechtigkeit. Sie verpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen der Solidarität.«
(Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit � Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997; Ziffer 107)
Vor diesem Hintergrund halten wir es für eine politisch unverzichtbare Aufgabe für jeden Menschen die Teilhabe an sozialen Grundgütern wie Arbeit, intaktes Gesundheitssystem, qualifizierendes Bildungssystem, soziale Absicherung im Alter und die Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Familien sicherzustellen.
In der gelebten Solidarität mit den Armen, Schwachen und Benachteiligten ereignet sich die Gemeinschaft mit Christus: �... Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.� (Mt 25,40)
Sigrid Reihs, Landessozialpfarrerin im Institut für Kirche und Gesellschaft
Iserlohn, 19. November 2003