Fast ihr ganzes Leben hat sie im Viertel gewohnt und 30
Jahre Lokalpolitik mitgestaltet. Aiga Kornemann hat Hiltrud Böcker-Lönnendonker
besucht
»Jetzt müssen die Jüngeren ran«, befindet die 75-Jährige und
schiebt eine Zeitung unters Milchkännchen. »Ich weiß, die 40-Jährigen von heute
haben sehr wenig Zeit, aber als wir 40 waren, hatten wir auch keine Zeit.« Sie
nippt an ihrem Kaffee und setzt nach: »Wenn man will, dann geht das schon. Es
gibt genug zu tun.«
An ihrer Klarheit und Energie zerschellt immer noch jeder
Beamtenwitz. Doch nach über 30 Jahren politischen Wirkens für Bielefeld will es
die Kulturpolitikerin, Lehrerin und langjährige Leiterin der
Gertrud-Bäumer-Schule ruhiger angehen lassen. Unzählige Fotos sind zu ordnen,
Freundschaften wollen gepflegt werden, außerdem hat sie sich als Gasthörerin an
der Uni eingeschrieben, »um die eigenen Lehr- und Lernroutinen aufzubrechen.«
Nach der letzten Wahl habe sie sich aus der Kommunalpolitik zurückgezogen, »das
würden meine Fraktionskollegen so aber nicht sagen.« Immer noch hört sie gern
zu, sieht viel, spricht mit den unterschiedlichsten Menschen.
15 Jahre saß Hiltrud Böcker-Lönnendonker im Stadtrat, 30
Jahre im Kulturausschuss. Dass der Verein Spielen mit Kindern e.V. 1985 das Haus an der Teichstraße beziehen
konnte, das eigentlich abgerissen werden sollte, wertet sie als einen Erfolg
ihrer politischen Mitwirkung, ebenso den Umbau der Stapenhorststraße, die nach
endlosem politischem Ringen Ende der 80er Jahre für Radfahrer und Fußgänger
entschärft wurde. Als Vorsitzende des Betriebsausschusses Bühnen und Orchester
begleitet sie Mitte der 90er Jahre den Wandel des Theater Bielefeld vom
amtslastigen Regiebetrieb in eine eigenbetriebsähnliche Einrichtung. Ihr Name
ist auch in der Spenderliste der Theaterstiftung zu finden, die 2001 das
Theatergebäude übernimmt und die Sanierung verantwortet.
Natürlich unterzeichnet auch sie 2002 den Aufruf des DGB zur
Demonstration gegen den Aufmarsch von Neonazis, denen die Wehrmachtsausstellung
im Bielefelder Historischen Museum nicht passt. Öffentlicher Protest bringt
damals 10.000 Ostwestfalen auf die Straße. 2005 entdecken die Böckers im
Jüdischen Museum Berlin einen einminütigen Filmausschnitt, der den Brand der
Bielefelder Synagoge im November 1938 zeigt. Sie entscheiden sofort, dass das
Dokument allen Bielefeldern zugänglich sein müsse, stiften die technische
Ausstattung und lassen den Filmschnipsel digitalisieren. Nun ist er im
Historischen Museum zu sehen.
Aber es soll ja ruhiger werden. Neben ihren
kommunalpolitischen Funktionen gibt Hil-trud Böcker-Lönnendonker 2009 den Sitz
im Beirat der Theater- und Konzertfreunde auf. Noch bleibt sie
Vorstandsmitglied im Förderkreis der Stiftung Huelsmann und im Förderverein der
Stadtbibliothek, der unter anderem Lesungen der Literaturtage finanziert, den
Leserucksack füllt und sich für eine gut ausgestattete öffentliche Bibliothek
stark macht. Sie richtet sich im Sessel auf, streicht kurz den Kragen glatt und
diktiert: »Es ist zwingend notwendig, die kulturelle Bildung unserer Kinder für
die Zukunft zu gewährleisten«.
Zu Hause bleiben will sie nicht
Auf dem Weg zur druckreif sprechenden Kulturpolitikerin
nutzt sie die Chancen ihrer Zeit. In den 60ern wechselt die technische
Zeichnerin nach zehn Arbeitsjahren den Beruf. Über eine Sonderbegabtenprüfung
an der Pädagogischen Hochschule erreicht sie die Zulassung zum Lehramtsstudium für
Deutsch und Geschichte. Ihre erste Stelle führt sie ins Lippische. Sie
heiratet, gut ein Jahr später kommt die Tochter zur Welt.
Zu Hause bleiben kommt für die junge Mutter nicht in Frage.
Sie setzt ihre Versetzung nach Bielefeld durch und nimmt sofort die Arbeit an
einer der ersten Hauptschulen auf. »Ich hatte eine tolle Klasse«, schwärmt sie
lebhaft. »Zu zwei Dritteln wären die heute auf dem Gymnasium, aber damals, als
Kinder von Arbeitern, Handwerkern, kleinen Angestellten, hatte man nicht
unbedingt die Gelegenheit, aufs Gymnasium zu wechseln.« Viele haben später auf
dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur gemacht und dann studiert.
1968, die Tochter ist anderthalb, unterrichtet sie 32
Stunden in der Woche und kann nur vom beschaulichen Bielefeld aus Anteil an den
politischen Entwicklungen nehmen. Ihr Bruder Siegward Lönnendonker ist als
APO-Aktivist mittendrin und baut später an der Freien Universität Berlin das
Archiv »APO und soziale Bewegungen« auf.
1970 tritt Hiltrud Böcker-Lönnendonker, begeistert von Willy
Brandts Ostpolitik, in die SPD ein, macht die Realschullehrerprüfung und
bekommt einen Sohn. Nun bleibt sie doch gut drei Jahre zu Hause. Erst als der
Sohn einen Kindergartenplatz bekommt, geht sie zurück in den Schuldienst. Die
Mühen der Mehrfachbelastung haben sich gelohnt. Tochter Bettina, einst
überzeugte Trägerin ausrangierter väterlicher Jacketts, ist seit drei Jahren
Personalchefin der European Space Agency (ESA) in Paris. Der »freundliche, aber
erziehungsresistente« Sohn Bastian geht auf die 40 zu und hält den Lehrstuhl
für Bioinformatik in Jena.
Ohne die Hilfe ihrer Mutter hätte sie Familie, Beruf und
politisches Engagement kaum vereinbaren können, erinnert sich
Böcker-Lönnendonker. »In unserer Straße gab es viele Omas. Die Mütter der
berufstätigen Mütter haben gemeinsam alle Kinder erzogen. So haben wir sie
entweder tagelang nicht gesehen, oder die ganze Bande war bei uns.« Nur zum
gemeinsamen Frühstück und Mittagessen habe sich die junge Familie immer
getroffen. Die Nachbarschaft sei durchlässiger gewesen, der Lebensraum weniger
verdichtet. Heute spielten Kinder mangels Alternative in der Rotunde auf dem
Siegfriedplatz und blockierten schon mal den Fahrstuhl, worauf sie die Linie 4
zur Uni verpasst. »Diese wunderbare Linie 4. Morgens steht man darin wie eine
Sardine, aber ist es nicht himmlisch, unter so vielen jungen Leuten zu sein?«
Sie selbst ist Mitte 30, als Heintje in den 70ern Millionen
Mamas zum Weinen bringt. Der Club of Rome zeichnet die Grenzen des Wachstums
auf. Umwelt-, Friedens-, Anti-AKW- und Frauenbewegungen beginnen, die Republik
umzukrempeln. Die sozialliberale Bundesregierung schafft mit dem BaföG bessere
Bildungschancen und enttäuscht mit dem Radikalenerlass. 1973 wird der Landkreis
Bielefeld aufgelöst, seine Gemeinden zählen nun zur Stadt. Mit rund 300.000 Einwohnern hat die junge
Universitätsstadt die Schwelle zur Großstadt erreicht. Ein reiches Arbeitsfeld
für Hiltrud Böcker-Lönnendonker. »Niemals hätte ich meine Frau abgehalten, sich
in der Politik zu engagieren«, sagt ihr Mann Klaus. »Da wäre sie doch nur
hibbelig geworden.«
Bildung, Kultur und die Chancen junger Menschen seien ihr
bis heute besonders wichtig, sagt sie. Warum Kultur? Ist die nicht nur was für
Loden- und Lackschuhträger? »So ein Quatsch«, platzt sie heraus. »Kultur ist
Grundlage der Selbstfindung, im Kantschen Sinn Heranführung des Menschen an die
Menschwerdung.« Kultur sei mehr als Theater und Museen, ihre große Liebe
Theater mehr als die städtischen Bühnen. Da sind noch die vielen freien
Institutionen, die Kultur vermitteln, zum Beispiel über Theater, Musik, Kunst,
Sport und Soziokultur.
Kultur und Bildung untrennbar verknüpft
Kultur und Bildung seien untrennbar miteinander verknüpft.
Darum sei es auch so wichtig, eine gute öffentliche Bibliothek zu haben: »Lesen
ist doch die Grundlage für jedes Verstehen.« Und kulturelle Bildung ein
Grundanspruch, den die Kommunen zu erfüllen hätten, mit guten Angeboten auch
für die so genannten bildungsfernen Schichten. »Meine Generation hat dafür
gekämpft, dass Bildung ein Grundrecht jedes Bürgers ist. Ich kann es überhaupt
nicht leiden, wenn die Kommunen einen gesetzlichen Grundanspruch zunehmend in
die Wohltätigkeit verlagern.«
Machos und Raucher mag Hiltrud Böcker-Lönnendonker auch
nicht, letztere wegen ihrer chronischen Bronchitis. »Was war das für ein Drama,
im Wahlkampf durch die verrauchten Lokale zu ziehen.« Die Zeiten sind vorbei.
Aber vom Leserbrief zum Schutz des Genitivs über ihren Einsatz für die
Stadtbibliothek bis zu Vorträgen über namhafte Bielefelderinnen bleibt Hiltrud
Böcker-Lönnendonker dem öffentlichen Leben Bielefelds erhalten.
Im März erscheint ihr Beitrag über die 1963 als erste Frau
ins Amt einer Landrätin des Kreises Bielefeld gewählte Else Zimmermann im
Buchprojekt Bielefelder Frauen über Geschichte. Hiltrud Böcker-Lönnendonker
sähe es gern, dass ein Zweig des Berufskollegs Senne in Brackwede Zimmermanns
Namen trägt. Sie sei eine herausragende Persönlichkeit gewesen und ein Vorbild
für die Jugend. Die Entscheidung der Stadt steht noch aus. Es bleibt genug zu
tun.