Webwecker Bielefeld: Hibbelig im Ruhestand (28.03.2010)

Hibbelig im Ruhestand (28.03.2010)



Hiltrud Böcker-Lönnendonker: »Kommen Sie vorbei, ich habe Anliegen. Und wenn mein Mann da ist, macht er Ihnen auch einen Kaffee«. Foto: Gábor Wallrabenstein


Fast ihr ganzes Leben hat sie im Viertel gewohnt und 30 Jahre Lokalpolitik mitgestaltet. Aiga Kornemann hat Hiltrud Böcker-Lönnendonker besucht


»Jetzt müssen die Jüngeren ran«, befindet die 75-Jährige und schiebt eine Zeitung unters Milchkännchen. »Ich weiß, die 40-Jährigen von heute haben sehr wenig Zeit, aber als wir 40 waren, hatten wir auch keine Zeit.« Sie nippt an ihrem Kaffee und setzt nach: »Wenn man will, dann geht das schon. Es gibt genug zu tun.«  

An ihrer Klarheit und Energie zerschellt immer noch jeder Beamtenwitz. Doch nach über 30 Jahren politischen Wirkens für Bielefeld will es die Kulturpolitikerin, Lehrerin und langjährige Leiterin der Gertrud-Bäumer-Schule ruhiger angehen lassen. Unzählige Fotos sind zu ordnen, Freundschaften wollen gepflegt werden, außerdem hat sie sich als Gasthörerin an der Uni eingeschrieben, »um die eigenen Lehr- und Lernroutinen aufzubrechen.« Nach der letzten Wahl habe sie sich aus der Kommunalpolitik zurückgezogen, »das würden meine Fraktionskollegen so aber nicht sagen.« Immer noch hört sie gern zu, sieht viel, spricht mit den unterschiedlichsten Menschen.

15 Jahre saß Hiltrud Böcker-Lönnendonker im Stadtrat, 30 Jahre im Kulturausschuss. Dass der Verein ›Spielen mit Kindern e.V.‹  1985 das Haus an der Teichstraße beziehen konnte, das eigentlich abgerissen werden sollte, wertet sie als einen Erfolg ihrer politischen Mitwirkung, ebenso den Umbau der Stapenhorststraße, die nach endlosem politischem Ringen Ende der 80er Jahre für Radfahrer und Fußgänger entschärft wurde. Als Vorsitzende des Betriebsausschusses Bühnen und Orchester begleitet sie Mitte der 90er Jahre den Wandel des ›Theater Bielefeld‹ vom amtslastigen Regiebetrieb in eine eigenbetriebsähnliche Einrichtung. Ihr Name ist auch in der Spenderliste der Theaterstiftung zu finden, die 2001 das Theatergebäude übernimmt und die Sanierung verantwortet.

Natürlich unterzeichnet auch sie 2002 den Aufruf des DGB zur Demonstration gegen den Aufmarsch von Neonazis, denen die Wehrmachtsausstellung im Bielefelder Historischen Museum nicht passt. Öffentlicher Protest bringt damals 10.000 Ostwestfalen auf die Straße. 2005 entdecken die Böckers im Jüdischen Museum Berlin einen einminütigen Filmausschnitt, der den Brand der Bielefelder Synagoge im November 1938 zeigt. Sie entscheiden sofort, dass das Dokument allen Bielefeldern zugänglich sein müsse, stiften die technische Ausstattung und lassen den Filmschnipsel digitalisieren. Nun ist er im Historischen Museum zu sehen.

Aber es soll ja ruhiger werden. Neben ihren kommunalpolitischen Funktionen gibt Hil-trud Böcker-Lönnendonker 2009 den Sitz im Beirat der Theater- und Konzertfreunde auf. Noch bleibt sie Vorstandsmitglied im Förderkreis der Stiftung Huelsmann und im Förderverein der Stadtbibliothek, der unter anderem Lesungen der ›Literaturtage‹ finanziert, den ›Leserucksack‹ füllt und sich für eine gut ausgestattete öffentliche Bibliothek stark macht. Sie richtet sich im Sessel auf, streicht kurz den Kragen glatt und diktiert: »Es ist zwingend notwendig, die kulturelle Bildung unserer Kinder für die Zukunft zu gewährleisten«.

Zu Hause bleiben will sie nicht

Auf dem Weg zur druckreif sprechenden Kulturpolitikerin nutzt sie die Chancen ihrer Zeit. In den 60ern wechselt die technische Zeichnerin nach zehn Arbeitsjahren den Beruf. Über eine Sonderbegabtenprüfung an der Pädagogischen Hochschule erreicht sie die Zulassung zum Lehramtsstudium für Deutsch und Geschichte. Ihre erste Stelle führt sie ins Lippische. Sie heiratet, gut ein Jahr später kommt die Tochter zur Welt.

Zu Hause bleiben kommt für die junge Mutter nicht in Frage. Sie setzt ihre Versetzung nach Bielefeld durch und nimmt sofort die Arbeit an einer der ersten Hauptschulen auf. »Ich hatte eine tolle Klasse«, schwärmt sie lebhaft. »Zu zwei Dritteln wären die heute auf dem Gymnasium, aber damals, als Kinder von Arbeitern, Handwerkern, kleinen Angestellten, hatte man nicht unbedingt die Gelegenheit, aufs Gymnasium zu wechseln.« Viele haben später auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur gemacht und dann studiert.

1968, die Tochter ist anderthalb, unterrichtet sie 32 Stunden in der Woche und kann nur vom beschaulichen Bielefeld aus Anteil an den politischen Entwicklungen nehmen. Ihr Bruder Siegward Lönnendonker ist als APO-Aktivist mittendrin und baut später an der Freien Universität Berlin das Archiv »APO und soziale Bewegungen« auf.

1970 tritt Hiltrud Böcker-Lönnendonker, begeistert von Willy Brandts Ostpolitik, in die SPD ein, macht die Realschullehrerprüfung und bekommt einen Sohn. Nun bleibt sie doch gut drei Jahre zu Hause. Erst als der Sohn einen Kindergartenplatz bekommt, geht sie zurück in den Schuldienst. Die Mühen der Mehrfachbelastung haben sich gelohnt. Tochter Bettina, einst überzeugte Trägerin ausrangierter väterlicher Jacketts, ist seit drei Jahren Personalchefin der European Space Agency (ESA) in Paris. Der »freundliche, aber erziehungsresistente« Sohn Bastian geht auf die 40 zu und hält den Lehrstuhl für Bioinformatik in Jena.

Ohne die Hilfe ihrer Mutter hätte sie Familie, Beruf und politisches Engagement kaum vereinbaren können, erinnert sich Böcker-Lönnendonker. »In unserer Straße gab es viele Omas. Die Mütter der berufstätigen Mütter haben gemeinsam alle Kinder erzogen. So haben wir sie entweder tagelang nicht gesehen, oder die ganze Bande war bei uns.« Nur zum gemeinsamen Frühstück und Mittagessen habe sich die junge Familie immer getroffen. Die Nachbarschaft sei durchlässiger gewesen, der Lebensraum weniger verdichtet. Heute spielten Kinder mangels Alternative in der Rotunde auf dem Siegfriedplatz und blockierten schon mal den Fahrstuhl, worauf sie die Linie 4 zur Uni verpasst. »Diese wunderbare Linie 4. Morgens steht man darin wie eine Sardine, aber ist es nicht himmlisch, unter so vielen jungen Leuten zu sein?«

Sie selbst ist Mitte 30, als Heintje in den 70ern Millionen Mamas zum Weinen bringt. Der Club of Rome zeichnet die ›Grenzen des Wachstums‹ auf. Umwelt-, Friedens-, Anti-AKW- und Frauenbewegungen beginnen, die Republik umzukrempeln. Die sozialliberale Bundesregierung schafft mit dem BaföG bessere Bildungschancen und enttäuscht mit dem Radikalenerlass. 1973 wird der Landkreis Bielefeld aufgelöst, seine Gemeinden zählen nun zur  Stadt. Mit rund 300.000 Einwohnern hat die junge Universitätsstadt die Schwelle zur Großstadt erreicht. Ein reiches Arbeitsfeld für Hiltrud Böcker-Lönnendonker. »Niemals hätte ich meine Frau abgehalten, sich in der Politik zu engagieren«, sagt ihr Mann Klaus. »Da wäre sie doch nur hibbelig geworden.«

Bildung, Kultur und die Chancen junger Menschen seien ihr bis heute besonders wichtig, sagt sie. Warum Kultur? Ist die nicht nur was für Loden- und Lackschuhträger? »So ein Quatsch«, platzt sie heraus. »Kultur ist Grundlage der Selbstfindung, im Kantschen Sinn Heranführung des Menschen an die Menschwerdung.« Kultur sei mehr als Theater und Museen, ihre große Liebe Theater mehr als die städtischen Bühnen. Da sind noch die vielen freien Institutionen, die Kultur vermitteln, zum Beispiel über Theater, Musik, Kunst, Sport und Soziokultur.

Kultur und Bildung untrennbar verknüpft

Kultur und Bildung seien untrennbar miteinander verknüpft. Darum sei es auch so wichtig, eine gute öffentliche Bibliothek zu haben: »Lesen ist doch die Grundlage für jedes Verstehen.« Und kulturelle Bildung ein Grundanspruch, den die Kommunen zu erfüllen hätten, mit guten Angeboten auch für die so genannten bildungsfernen Schichten. »Meine Generation hat dafür gekämpft, dass Bildung ein Grundrecht jedes Bürgers ist. Ich kann es überhaupt nicht leiden, wenn die Kommunen einen gesetzlichen Grundanspruch zunehmend in die Wohltätigkeit verlagern.«

Machos und Raucher mag Hiltrud Böcker-Lönnendonker auch nicht, letztere wegen ihrer chronischen Bronchitis. »Was war das für ein Drama, im Wahlkampf durch die verrauchten Lokale zu ziehen.« Die Zeiten sind vorbei. Aber vom Leserbrief zum Schutz des Genitivs über ihren Einsatz für die Stadtbibliothek bis zu Vorträgen über namhafte Bielefelderinnen bleibt Hiltrud Böcker-Lönnendonker dem öffentlichen Leben Bielefelds erhalten.

Im März erscheint ihr Beitrag über die 1963 als erste Frau ins Amt einer Landrätin des Kreises Bielefeld gewählte Else Zimmermann im Buchprojekt ›Bielefelder Frauen über Geschichte‹. Hiltrud Böcker-Lönnendonker sähe es gern, dass ein Zweig des Berufskollegs Senne in Brackwede Zimmermanns Namen trägt. Sie sei eine herausragende Persönlichkeit gewesen und ein Vorbild für die Jugend. Die Entscheidung der Stadt steht noch aus. Es bleibt genug zu tun.