Für Kinder hat sich der Bielefelder Westen von einer
Vorhölle zum goldenen Käfig gewandelt. Die Geschichte der Kindheit hat Bernd
Kegel erkundet
Wann Siegfried wirklich mal Platz hatte im Viertel, das
dürfte wohl zu Zeiten Wittekinds gewesen sein. Als Bürger/Meister wie Stapenhorst
auf den Plan traten, da wurde der Spielraum auf der Straße schon knapp für Roland
und Dorothee. Da wurde es eng für die Kinder im Westen.
Der kleine Arndt hat wahrscheinlich nie einen Fisch aus dem
Goldbach geangelt. Wahrscheinlich war Kindheit nie so, wie wir es gerne hätten.
Historisch betrachtet stellte sie oft genug einen der scheußlicheren Lebensabschnitte
dar. In der Antike galt es als völlig okay, ein Kind zu töten, wenn es der Gemeinschaft
nicht passte. Heute geht es weniger brachial zur Sache. Die Gesellschaft
tendiert zu eleganteren Methoden. Nicht mehr das einzelne Kind wird entfernt,
sondern gleich die ganze Kindheit. Das scheint besser für das einzelne Kind zu
sein und fällt zudem weniger auf.
Kinderfeindlicher Westen
Kindheit früher und heute: In den vergangenen 30 bis 40
Jahren vollzog sich eine Bewegung quasi vom Siechenmarsch zur Grünstraße in den
Schlosshof. Um die Wende der 1970er zu den 1980er Jahren erfuhr der Bielefelder
Westen die Ausprägung, die ihm auch heute noch als besondere Note nachgesagt
wird. Die Nähe der jungen Universität wirkte sich belebend auf das Viertel aus.
Es kamen frische Bürger in Gestalt von Studentinnen und Studenten, und die
brachten allerlei lustige Ideen mit. Zum Beispiel die von der antiautoritären
Erziehung. Das sollte Folgen haben.
Aus Sicht eines Kindes handelte es sich beim Bielefelder
Westen zu jener Zeit um eine Art Vorhölle. Eine Studie von 1981 bezeichnet das
Gebiet explizit als »kinderfeindlich«. Der Siegfriedplatz war zu jener Zeit das
kalte, harte Herz des Viertels. Umstellt von dürren Bäumchen, umsäumt von
kantigen Bordsteinen. Eine Asphaltwüste in Steinbeißergrau. In der Bürgerwache
hauten die Beamten von Post und Polizei staatstragend die Stempel auf die
Pulte, und einen Spielplatz hätten sich die meisten von ihnen dort schlichtweg
verbeten. Das Zentrum des Viertels: ein Parkplatz. Dafür war Raum. Den ihren
mussten sich die Kinder selbst suchen, hinter der Johanniskirche zum Beispiel
oder vor dem Kiosk an der Schlosshofstraße. Mehr Bewegungsraum war nicht
vorgesehen. Das reichte eigentlich gerade mal für einen Siechenmarsch.
Doch Kinder wären nicht Kinder, wenn sie nicht auch hier
ihre Wege gefunden hätten. Es mag sich um eine Hölle gehandelt haben, doch es
war eine begehbare. Die Kinder zogen um die Häuser, durch die Parks, oft weit
hinaus, manchmal bis zum Johannisberg, wo die Bäume lockten, die es zu
erklettern galt. Weit ab von elterlichen Zugriffen. Heute klettern wieder
Kinder am Johannisberg. Meist doppelt abgesichert hängen sie dann in den bunten
Seilen unter den wachsamen Augen professioneller Hüter: Der Kletterpark ist
eine tolle Sache. Er ist auch tolles Beispiel für die Verschlimmbesserungen,
die sich vollzogen haben. Der Gedanke unablässiger Kontrolle hat sich
eingebrannt in die Hirne und Seelen der Eltern.
Das Private schlägt zurück
Dabei waren die 70er/80er Jahre keinesfalls unbekümmerte
Zeit. Die Angst vor der Atombombe ging um, saurer Regen ging nieder, man lernte
Dioxin zu buchstabieren und den sterbenden Wald zu betrauern. Es stand
schlecht um Flora und Fauna. Aber es regte sich auch Widerstand. Eltern
reagierten mit Aufbruch. In der »linken Baracke« an der Melanchthonstraße
entstanden die Ideen für eine andere Welt. Alternativ nannte man das auch: Man
dachte an sich, an Jugendliche, an Kinder. So wurden die »Hottentotten grüne
Motten« und andere Kindergruppen auf den Weg bebracht. Die ersten Kinderläden
entstanden im Viertel. Das Private wurde politisch.
Politischem Denken wurde die Bedeutung beigemessen, die
heute vor allem dem Psychologischen und Privaten zukommt. Letzteres mit Folgen.
Nie zuvor in der Geschichte verfügten Kinder über so viel Freiheiten, wie sie
ihnen heute zugestanden werden, ist in einer aktuellen Studie des Kinderschutzbundes
zu lesen. Nie zuvor wird den Kindern so viel an Selbstbestimmungsrechten zugebilligt.
Allerdings gilt dies nur in geschlossenen Räumen! Nie in der Geschichte der
Kindheit haben Kindern derart an Freiheit eingebüßt, wenn es sich um den öffentlichen
Raum handelt. Niemals zuvor wurde ihnen dort so viel an Eigenleben
fortgenommen.
Kindheit an das System anpassen
Vieles ist schöner geworden, verdient den Namen
»Grünstraße«: Die autoritären Hausmeister sind aus den Hinterhöfen gewichen,
und sie haben ihre »Spielen verboten«-Schilder abschrauben müssen. Statt ihrer
haben wohlmeinende Eltern bunte Plastikrutschen und hutzelige Holzhäuser in die
Höfe gebracht und damit liebevoll gestaltete Kleinoasen geschaffen. Genau
betrachtet sind es hübsch gestaltete Freigehege. Schlosshöfe, in denen die
Kleinen gefangen sind.
Kinder stehen heute ständig unter Beobachtung. Sie werden
stets animiert von Eltern, Servicepersonal und Therapeuten. Sie touren von dem
einen Spielparadies ins nächste, vom Euro Eddy zum Kieferorthopäden. Wohlmeinende
Eltern sind informierter, als Eltern jemals waren. Sie tun ihr Bestes und sie
stellen hohe Ansprüche. Zum Beispiel an die Kitas des Viertels.
Die Tagesplätze sind gefragter denn je. Eltern spüren, dass
sie allein ihren Kindern nicht so viele Angebote machen können, wie es Kitas
zuwege bringen. Doch über den Kitas schwebt der KiBiz. Das hört sich erst
einmal so an, als mache sich da eine alte »Hottentottenmotten«-Alternative neu
ans Werk. Doch weit gefehlt. Das schönfärberisch Kinder-Bildungs-Gesetz
genannte Regelwerk befördert vieles von dem, was Hottentotten & Co.
pädagogisch auf den Weg brachten, auf den Misthaufen der Geschichte. Es geht
nicht um Pädagogisches, sondern darum, Kindheit reibungsloser an die Abläufe
eines Systems anzupassen, in dem es weniger alternativ als neoliberal zugeht:
Mutti soll nach der lästigen Babypause schnell wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung
stehen.
Unbezahlte Kräfte für das Gedöns
KiBiz prahlt vor allem damit, mehr Plätze für Kinder unter
drei Jahren eingerichtet zu haben. In der Praxis heißt das, dass den Kindergärtnerinnen
haufenweise mehr Babys ins Nest gelegt wurden. KiBiz hat aber nicht mehr an
Kohle und Kolleginnen springen lassen. So geht es nach alter Sitte: Das »Gedöns«
wird den unbezahlten Kräften überlassen. Den Praktikantinnen. Die machen ihre
Sache so gut sie können. Aber KiBiz sagt: Emotionale Zuwendung ist nicht
finanzierbar. Und auf den Straßen marodieren jetzt schon die Jugendlichen, als
wollten sie uns bedeuten, dass dies alles erst der Anfang ist.
Sie schaffen es tatsächlich, das »Draußen« für die Kleinen
endgültig zur no go area zu machen. Womit die nächste Generation von
Ausgetillten schon vorprogrammiert wäre. Die Kitas reagieren unter diesem
Druck. Im Westen wie in allen ähnlichen Vierteln bemüht man sich, so viel
Außengelände naturidentisch zu gestalten, wie nur irgend möglich. Es ist, als
baue man unter schwierigsten Bedingungen das Zoogehege für etwas vom Aussterben
Bedrohtes: die Kindheit.
Ob das politischer Wille ist, ist nicht die Frage. Die Frage
ist: Wie viel Abstand gibt es noch zwischen Siechenmarsch und Amoklauf, und wie
wollen wir das alles später mal unseren Kindern erklären?