Webwecker Bielefeld: Glückwunsch, »Neue Mitte« (0.11.2009)

Glückwunsch, »Neue Mitte« (0.11.2009)



Vergraute Visionen aus Stahl und Beton: die Zukunft der »Neuen Mitte« ist ungewiss. Foto: Aiga Kornemann


Vor rund zehn Jahren erwachte Bielefelds ›Neues Bahnhofsviertel‹ zum Leben. Eine Bestandsaufnahme von Aiga Kornemann

 

Was als visionäres Projekt der Stadtentwicklung begann, wurde ein Trumm aus Glas und Stahl. Daran ist nicht zu rütteln. Grau liegt der Treppenaufgang hinterm Hauptbahnhof. Farbtupfer verblassen auf Betonrondellen, deren Mitte jeweils ein typischer Baum der Bielefelder Partnerstädte ziert. Eine Bank steht nicht darunter. Wozu auch, es gibt genug Sitzplätze für Menschen, die bereit sind, ein Getränk zu bestellen, argumentiert die Gastronomie oben am Boulevard.

Dessen anfänglich 22 Meter Breite sind auf 16 geschrumpft. »Gastroinseln« flankieren die Ausgehmeile zwischen Großkino und Hallenbad. Mit Parkhaus und ›Entertainmentcenter‹ (EC) liegen plumpe Baukörper an, nichts überrascht, kein Blick bleibt im Gedächtnis haften. Zweckfreie Schönheit hat sich hier nicht angesiedelt. Doch bisher ist das Viertel ein Erfolg für die beteiligten Investoren, die ansässigen Mieter und irgendwie auch für die Stadt.

Auf der Verlustseite steht eine Fußgängerbrücke vom Bahnhofsviertel zur Kreuzung Jöllenbecker-, Weststraße, die dem Sparzwang zum Opfer fiel. Außerdem liegen Gestaltungsoptionen für den öffentlichen Raum brach, die im Austausch der Befindlichkeiten zwischen Gestaltern, Nutzern, Geldgebern und Stadtpolitikern versanden. Das Fehlen der Brücke zum Westen nennt Tilman Rhode-Jüchtern vom Verein ›pro grün Bielefeld‹ »die schlimmste Sünde neben der ärmlichen Gestaltung des öffentlichen Raums«. Rhode-Jüchtern gründete die Zukunftswerkstatt, die Mitte der 90-er Jahre im offenen Diskurs und ohne kommerzielle Interessen die Idee »Neues Bahnhofsviertel« entwickelte und sie im Auftrag der rot-grünen Stadtregierung in einer Machbarkeitsstudie konkretisierte.

»Überschaubar, konzentriert«

Spuren ihrer Vision vom Boulevard mit Arenafunktion, Hallenbad und Großkino sind zu erkennen. Die Idee, hinterm Bahnhof die ›Alm‹ neu zu bauen, scheiterte ebenso wie der Plan, das neue Quartier statt durch den Tunnel über eine Brücke mit dem Bahnhof zu verbinden. Die Beteiligung der Zukunftswerkstatt endete abrupt, als die eigens gegründete Projektentwicklungsgesellschaft (PEG) begann, mit Investoren zu verhandeln. Das Wettrennen ums erste »Multiplex« ließ die Stadt den Hamburger Kinounternehmer Hans-Joachim Flebbe gewinnen, der 1998 als Erster in die Großbaustelle zog.

Während sein ›Cinemaxx‹ im Jahr 2000 den millionsten Besucher begrüßte, lag vom EC gerade mal der Grundstein. Ein Varieté war im Gespräch, kam aber nicht zustande. Mal sollte ein Hotel entstehen, dann wieder nicht. Am anderen Ende der Baustelle eröffnete das ›Ishara‹. 2002 schaffte die Bahn den Tunneldurchstich und für vier Jahre den provisorischen Zugang zum prestigeträchtigen Bauprojekt. »Kino und Hallenbad kamen zu früh«, bemängelt Ratsmitglied Hartmut Meichsner (CDU). Schade sei auch, dass der Mut gefehlt habe, etwa das Public Viewing umzusetzen, gemeinsam Fußball gucken auf einer Videoleinwand am Parkhaus.

»Aus der öden Industriebrache haben wir Zug um Zug etwas Gutes gemacht«, findet Hans-Jürgen Franz (SPD), Bezirksvorsteher in Mitte. Tagsüber nutzten im Viertel Beschäftigte und ICE-Reisende das Quartier, am Wochenende bringe die Regionalbahn junge Leute bis vor die Diskotür und morgens wieder nach Hause. Da beißt auch mal ein Bierseliger die Polizei ins Bein, deutlich mehr Ärger als anderswo gebe es aber nicht: »Polizeilich gesehen ist das Viertel überschaubar, konzentriert, gut zu beobachten«, lobt Polizeisprecher Martin Schultz.

Auch die Goldbeck GmbH ist zufrieden. Die gut 20.000 Quadratmeter Gastro- und Bürofläche seien fast komplett vermietet, das Parkhaus ausgelastet. Das Unternehmen gewann am Quartier, indem es 2007 als einziger verbliebener Gesellschafter der PEG Parkhaus und EC an den britischen Mansford Fonds verkaufte. Die Summe ist ein gut gehütetes Geheimnis. Die städtische Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft (WEGE) war schon 2005 aus der PEG ausgestiegen, in der sie zehn Prozent gehalten hatte. Immerhin profitiert die Stadt bis heute von den Arbeitsplätzen und Gewerbesteuern, die das Quartier erbringt.

Allen Unkenrufen zum Trotz hat das ›Neue Bahnhofsviertel‹ der Innenstadtgastronomie keine Kunden abgegraben. Selbst der viel kritisierte Abriss des Drogenpavillons, der 1998 dem Kino weichen musste, hat sich nach Einschätzung des Sozial- und Kriminalpräventiven Rates und der Drogenberatung Bielefeld e.V. zum Vorteil für die Klientel und für die Stadt entwickelt.

»Ein Herz für den Boulevard«

 Wie es mit der »Neuen Mitte« weitergeht, steht in den Sternen. Bielefelds Großkinos ringen ums Überleben. Seit drei Monaten ist der Fitnessclub insolvent, macht aber weiter. »Probleme haben alle. Die Leute gehen aus, aber sie geben nicht mehr so viel aus«, erklärt Willi Joachim, Leiter der European Business School im EC: »Trotzdem. Ich habe ein Herz für den Boulevard.«