Vor rund zehn Jahren erwachte Bielefelds Neues
Bahnhofsviertel zum Leben. Eine Bestandsaufnahme von Aiga Kornemann
Was als visionäres Projekt der Stadtentwicklung begann,
wurde ein Trumm aus Glas und Stahl. Daran ist nicht zu rütteln. Grau liegt der
Treppenaufgang hinterm Hauptbahnhof. Farbtupfer verblassen auf Betonrondellen,
deren Mitte jeweils ein typischer Baum der Bielefelder Partnerstädte ziert.
Eine Bank steht nicht darunter. Wozu auch, es gibt genug Sitzplätze für
Menschen, die bereit sind, ein Getränk zu bestellen, argumentiert die
Gastronomie oben am Boulevard.
Dessen anfänglich 22 Meter Breite sind auf 16 geschrumpft.
»Gastroinseln« flankieren die Ausgehmeile zwischen Großkino und Hallenbad. Mit
Parkhaus und Entertainmentcenter (EC) liegen plumpe Baukörper an, nichts
überrascht, kein Blick bleibt im Gedächtnis haften. Zweckfreie Schönheit hat
sich hier nicht angesiedelt. Doch bisher ist das Viertel ein Erfolg für die
beteiligten Investoren, die ansässigen Mieter und irgendwie auch für die Stadt.
Auf der Verlustseite steht eine Fußgängerbrücke vom
Bahnhofsviertel zur Kreuzung Jöllenbecker-, Weststraße, die dem Sparzwang zum
Opfer fiel. Außerdem liegen Gestaltungsoptionen für den öffentlichen Raum
brach, die im Austausch der Befindlichkeiten zwischen Gestaltern, Nutzern, Geldgebern
und Stadtpolitikern versanden. Das Fehlen der Brücke zum Westen nennt Tilman
Rhode-Jüchtern vom Verein pro grün Bielefeld »die schlimmste Sünde neben der
ärmlichen Gestaltung des öffentlichen Raums«. Rhode-Jüchtern gründete die Zukunftswerkstatt,
die Mitte der 90-er Jahre im offenen Diskurs und ohne kommerzielle Interessen
die Idee »Neues Bahnhofsviertel« entwickelte und sie im Auftrag der rot-grünen
Stadtregierung in einer Machbarkeitsstudie konkretisierte.
»Überschaubar, konzentriert«
Spuren ihrer Vision vom Boulevard mit Arenafunktion,
Hallenbad und Großkino sind zu erkennen. Die Idee, hinterm Bahnhof die Alm
neu zu bauen, scheiterte ebenso wie der Plan, das neue Quartier statt durch den
Tunnel über eine Brücke mit dem Bahnhof zu verbinden. Die Beteiligung der Zukunftswerkstatt
endete abrupt, als die eigens gegründete Projektentwicklungsgesellschaft (PEG)
begann, mit Investoren zu verhandeln. Das Wettrennen ums erste »Multiplex« ließ
die Stadt den Hamburger Kinounternehmer Hans-Joachim Flebbe gewinnen, der 1998
als Erster in die Großbaustelle zog.
Während sein Cinemaxx im Jahr 2000 den millionsten
Besucher begrüßte, lag vom EC gerade mal der Grundstein. Ein Varieté war im
Gespräch, kam aber nicht zustande. Mal sollte ein Hotel entstehen, dann wieder
nicht. Am anderen Ende der Baustelle eröffnete das Ishara. 2002 schaffte die
Bahn den Tunneldurchstich und für vier Jahre den provisorischen Zugang zum
prestigeträchtigen Bauprojekt. »Kino und Hallenbad kamen zu früh«, bemängelt
Ratsmitglied Hartmut Meichsner (CDU). Schade sei auch, dass der Mut gefehlt
habe, etwa das Public Viewing umzusetzen, gemeinsam Fußball gucken auf einer
Videoleinwand am Parkhaus.
»Aus der öden Industriebrache haben wir Zug um Zug etwas
Gutes gemacht«, findet Hans-Jürgen Franz (SPD), Bezirksvorsteher in Mitte.
Tagsüber nutzten im Viertel Beschäftigte und ICE-Reisende das Quartier, am
Wochenende bringe die Regionalbahn junge Leute bis vor die Diskotür und morgens
wieder nach Hause. Da beißt auch mal ein Bierseliger die Polizei ins Bein,
deutlich mehr Ärger als anderswo gebe es aber nicht: »Polizeilich gesehen ist
das Viertel überschaubar, konzentriert, gut zu beobachten«, lobt
Polizeisprecher Martin Schultz.
Auch die Goldbeck GmbH ist zufrieden. Die gut 20.000
Quadratmeter Gastro- und Bürofläche seien fast komplett vermietet, das Parkhaus
ausgelastet. Das Unternehmen gewann am Quartier, indem es 2007 als einziger
verbliebener Gesellschafter der PEG Parkhaus und EC an den britischen Mansford
Fonds verkaufte. Die Summe ist ein gut gehütetes Geheimnis. Die städtische Wirtschaftsentwicklungsgesellschaft
(WEGE) war schon 2005 aus der PEG ausgestiegen, in der sie zehn Prozent
gehalten hatte. Immerhin profitiert die Stadt bis heute von den Arbeitsplätzen
und Gewerbesteuern, die das Quartier erbringt.
Allen Unkenrufen zum Trotz hat das Neue Bahnhofsviertel
der Innenstadtgastronomie keine Kunden abgegraben. Selbst der viel kritisierte
Abriss des Drogenpavillons, der 1998 dem Kino weichen musste, hat sich nach
Einschätzung des Sozial- und Kriminalpräventiven Rates und der Drogenberatung
Bielefeld e.V. zum Vorteil für die Klientel und für die Stadt entwickelt.
»Ein Herz für den Boulevard«
Wie es mit der »Neuen Mitte« weitergeht, steht in den
Sternen. Bielefelds Großkinos ringen ums Überleben. Seit drei Monaten ist der
Fitnessclub insolvent, macht aber weiter. »Probleme haben alle. Die Leute gehen
aus, aber sie geben nicht mehr so viel aus«, erklärt Willi Joachim, Leiter der
European Business School im EC: »Trotzdem. Ich habe ein Herz für den
Boulevard.«