Von Harald Manninga
Wenn man in Solingen geboren und aufgewachsen ist, kann es einem
wohl tatsächlich so vorkommen, als sei der wahre Lenin nur bis ins
etwas weiter östlich gelegene Lüdenscheid vorgedrungen. Denn dort, und
eben nicht in Solingen, machten die Kommunisten damals ihre
Pfingstzeltlager für die regionale revolutionäre Jugend.
Oder wohl besser: Für die Kinder revolutionärer Eltern, die man
heute als »Achtundsechziger« bezeichnet. Eines dieser Kinder ist der
1964 geborene Richard David Precht, dessen Erinnerungen, von seiner
Kindheit bis zum Mauerfall 1989, letztes Jahr als Buch erschienen und
jetzt von ihm und dem Dokumentarfilmer André Schäfer ins Bild gesetzt
wurden.
Wer jetzt denkt: »Precht, den Namen kenn ich doch irgendwoher
?«
hat recht. Das ist der mit dem Besteller zur Frage »Wer bin ich und
wenn ja wie viele?«, in dem es nicht um multiple Persönlichkeiten geht,
sondern dieser außerordentlich kluge Mann auf höchst lesbare Weise mit
der Einführung des gemeinen interessierten Lesers in die Philosophie
beschäftigt ist.
Beides, dieses Buch und diesen Film, nebeneinander haltend ist es
kaum glaublich, dass aus dem im Film gezeigten Kind ein solcher Autor
geworden ist. Oder grade drum?
Bei Familie Precht ist erlaubt oder gar auch gefordert, was bei den
Nachbarskindern verboten ist: Wände beschmieren, die Sonntagskleider
schmutzig machen, Ho-Ho-Ho-Chi-Minh rufen. Verpönt ist, was die
Nachbarskinder dürfen: Fernsehen, Cola, Comics. Man versteht sich im
vermufften Bergischen Land als eine Art Speerspitze der Revolution. Die
Feindbilder sind hier ebenso klar wie bei den andern, nur halt
umgekehrt.
Wie sieht ein Kind »der Achtundsechziger« die damaligen Verhältnisse
heute, wo es über 40 ist und selbst Kinder hat? Ungefähr davon handelt
dieser Film.
Wohlgemerkt: Ein Kind. Richard David Precht eben, der sein ganz
persönliches Bild davon entwirft. Schon seine Geschwister, zwei davon
adoptierte Kinder aus Vietnam, sehen manche Dinge anders als er. Macht
nichts, ist ja schließlich sein Film. Also ganz persönlich, jetzt.
Trotzdem werden sich viele Betrachter, die heute selbst in den
Vierzigern sind, in vielen der abgebildeten Dinge wiedererkennen. Und
wenn nicht sich, dann auf jeden Fall die Filmstrecken fremder Hand, mit
denen dieser Streifen angereichert ist. FJS kommt vor, Brandt,
Chrustschow, Kiesinger, Barzel, im weiteren Verlauf auch Helmut Schmidt
und Jimmy Carter (der das Wort »Menschrechte« in die politische
Argumentation eingebracht habe, wie es hier heißt). Ausschnitte aus
Nachrichtenfilmen vom Vietnamkrieg wechseln sich mit familiären
Super-8-Aufnahmen ab und die mit Fernsehstrecken der älteren Zeit.
Und alles wird regiert und zusammengehalten vom (selbst-)ironischen,
aber trotzdem immer aus dem Blickwinkel des »Kindes« berichtenden,
Tonfall der Stimme von Richard Precht, der selbst erklärt und
kommentiert, was da jeweils zu sehen ist.
Das allein wäre aber wohl doch etwas langweilig. Gerade jetzt, wo es
ja allenthalben vom 40. Geburtstag von »68« und allem, was damit
zusammenhängt, auf uns niederschallt. Da kriegt dieser Film aber so
sehr er »rechtzeitig zum Boom« in die Kinos kommt auf recht hübsche
Weise nahezu immer die entsprechende Kurve. Das liegt zum einem an der
konsequent dann-aber-eigentlich-doch-nicht durchgehaltenen kindlichen
Perspektive des Kommentators, der scheinbar ganz naiv, fast
Sendung-mit-der-Maus-mäßig und offen erzählt, wie das »damals« bei ihm
ankam, mit allem Unverständnis für die Widersprüche und Wurschtigkeiten
dieser Zeit und dieser (elterlichen) Lebensweise. Die das Kind bis
heute »prägen«.
Zum zweiten glänzt dieser Film durch die mehr oder weniger
unterschwellige Darstellung der Widersprüche und Wurschtigkeiten dieser
Zeit mit na ja: den Widersprüchen und Wurschtigkeiten, die das
»damalige« Leben in so einem Haushalt eben bestimmten. Da kann es dann
also auch schon mal vorkommen, dass ein agitierender O-Ton von Daniel
Cohn-Bendit über Bildern von Wasserwerfern, die sich auf Demonstranten
richten, wie nebenbei (nein, natürlich mit Absicht) mit einem Maaaama
trällernden Heintje unterlegt wird.
Liebevoll-involviert, ironisch-distanziert, eine Collage, die ein »rundes« Bild abgibt
Ein wunderbarer Film.