Webwecker Bielefeld: Einzelkind

Sie lieben und sie schlagen sich



Mein Bruder ist ein Einzelkind

Von Harald Manninga

Zwei Brüder in der Provinz im Italien der 60er und 70er Jahre. Der eine: von allen (Frauen) geliebt, eine charismatische Erscheinung. Der andere: der ewige Zweite, Zurückgesetzte. Jedenfalls allem Anschein nach; und um sich das zerbrechliche Selbstbewusstsein zu stärken, macht er auf Krawall und prügelt sich dauernd mit irgendwem. Darum bekommt er schon als Kind den Spitznamen Accio, was soviel wie »Giftkröte« bedeutet, wie es heißt.

Mehr aus Trotz wohl schließt Accio sich als Teenager den Faschisten an, während sein Bruder Manrico als Anführer in der Arbeiterbewegung Karriere macht. Im Laufe der Zeit entwickeln sich die zwei jedoch: Accio schwört nach und nach dem Faschismus ab, Manrico wird in seinem Kommunismus immer radikaler.

Sehr behutsam und teilweise ebenso komisch wie dramatisch zeigt Regisseur Daniele Lucchetti am Beispiel der beiden Brüder die Zustände im Italien der politisch bewegten Zeit jener Jahre. Auf der Grundlage von Antonio Pennacchis Roman Il Fasciocomunista erzählt er im wesentlichen aus der Sicht des Accio in zurückhaltend ironischem Ton von Leben, Lieben, Politik, la famiglia und Nudeln.

Als dieser Film im letzten Herbst bei den 41. Internationalen Hofer Filmtagen seine Deutschlandpremiere hatte, musste man sich noch mit Untertiteln behelfen, weil es noch keine synchronisierte Version gab. Das tat der Begeisterung des Publikums dort aber keinen Abbruch.

Und mit Recht, denn diese Tragikomödie ist nicht nur nahezu perfekt inszeniert, es »stimmen« auch alle Orte (von denen es nicht wenige zu sehen gibt), die Musik, größtenteils italienische Schlager aus der dargestellten Zeit, gibt dem unaufdringlichen Lokalkolorit den letzten Schliff. Und nicht zuletzt ist das alles hervorragend gespielt.

Da wären zunächst die Darsteller der Brüder: Den »kleinen« Accio spielt Vittorio Emanuele Propizio als hätte er nie was anderes getan, als sich mit seiner Mutter (ein Schmuckstück für sich: die Leistung von Angela Finocchiaro) zu streiten und irgendwelchen Wichsern die Nase einzuschlagen. Den »älteren« Accio (denn hier wird eine Zeitspanne von gut zehn Jahren abgelichtet) übernimmt Elio Germano, seit einiger Zeit in Italien der Jungschauspieler überhaupt und bei der letzten Berlinale als »Shooting Star des Jahres« hervorgetreten. – Was ein bisschen verwegen klingt, wenn man sich seine Bio- und insbesondere seine Filmografie ansieht: Dieser 28-jährige Mann steht seit guten 16 Jahren vor der Kamera.

Fast noch besser trotzdem Riccardo Scamarcio in der Rolle der »älteren« Version des Manrico. Nur ein Jahr älter als Accio-Darsteller Germano und erst seit 2001 im größeren Geschäft wirkt Scamarcio dennoch lockerer, charismatischer, intensiver. Oder ist diese Wirkung eher nur der Rolle geschuldet?

Seis drum: Denn nahezu nebenbei ist dieser Film natürlich (?) nicht nur ein Blick ins Italien der zehn-fünfzehn-zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Sondern auch ein zuweilen höchst bissiger Kommentar auf ein Land, das auch heute noch vor allem durch politische Zerrissenheit von sich reden macht. (Im vergangenen April wurde dort die zehnte Regierung in fünfzehn Jahren gewählt. Nur mal so als Beispiel.) Und doch irgendwie im Innersten zusammenhält.

Regisseur Lucchetti behauptet gern, dass er in diesem Film einer eindeutigen politischen Stellungnahme entsagt und sich nur anhand der (scheinbaren?) Gegensätzlichkeit der Brüder an dem abarbeitet, was eben ist. Das mag man ihm ruhig glauben, wenn man will, jedenfalls aber hat er mit dem Einzelkind offenbar einen Nerv getroffen – die italienische Filmgemeinde honorierte diese Leistung u.a. mit fünf »Donatellos« (mit vollem Namen heißt er »David di Donatello« und ist der angesehenste Filmpreis, den es in Italien gibt), außerdem nachgerade unübersehbaren Zuschauerzahlen. Und wie gesagt, das erste deutsche Publikum letzten Herbst bei den Hofer Filmtagen war ebenfalls begeistert.