Ich lerne zu lesen, ohne es zu merken. Meine Tage spielen sich neuerdings an einem Ort ab, an dem sich die Welt vervielfacht. Ich bin sechs Jahre alt und gehe zur Schule,
so Nadia, die Erzählerin des neuen Romans von Brigitte Giraud Das Leben der Wörter.
Nadia lebt mit ihrer Familie, Vater, ältere Schwester und Stiefmutter in einer Wohnsiedlung einer der Vororte Lyons. Mit der Einschulung verändert sich ihr Leben entscheidend, nicht nur durch die neue Alltagsroutine. Für Nadia erschließt sich mit dem Besuch der Schule eine neue Welt, sie lernt ihr Bekanntes mit anderen Augen zu sehen und mit neu erworbenen Maßstäben zu werten. Und sie lernt, zu zweifeln, zu hinterfragen. So wie sich ihr persönlicher Horizont mit jedem Tag erweitert, so erfahren die LeserInnen immer mehr über ihre Lebensrealität: Der Algerienkrieg ist vorbei, aber immer noch präsent, die Frau, die nicht meine Mutter ist, verweist auf eine schmerzhafte Leerstelle. Nadia ist auf der Suche, und entdeckt vieles: warum Wasser verdampft oder Schnecken Fühler haben, aber auch das Erwachen neuer Gefühle und Eindrücke, letztlich sich selbst. Ein wunderbar geschriebener Roman über eine Kindheit, berührend und poetisch. Ich lerne mit zweistelligen, dann mit dreistelligen Zahlen rechnen, in Dutzenden, in Einheiten zählen. Bald schon kann ich bis tausend zählen. Ich lerne, dass man von tausend bis zu vielen weiteren Tausendern zählen kann. Ich entdecke die Unendlichkeit, und das nicht nur in Bezug auf Mathematik.
Brigitte Giraud, Das Leben der Wörter, Fischer Verlag, 137 S., 2007, 16,90 Euro
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