Webwecker Bielefeld: John Harvey: »Schrei nicht so laut« (April 2007)

John Harvey: »Schrei nicht so laut« (April 2007)



Nach zehn in Großbritannien sehr erfolgreichen Romanen hat der Krimiautor John Harvey seinen Protagonisten Charlie Resnick verabschiedet und eine neue Hauptfigur erfunden, mit dem so einfachen wie sprechenden Namen Frank Elder. "Schrei nicht so laut" ist der erste von bisher drei Romanen um Elder, im Original 2004 veröffentlicht. Elder ist Anfang fünfzig, aber nach dreißig Jahren im Polizeidienst hatte er genug. Und dann lässt ihn sein alter Job doch nicht ganz los. Elder erfährt, dass Shane Macdonald, ein Vergewaltiger und Mörder nach vierzehn Jahren freikommt und wird dadurch an einen ungelösten Fall von einst erinnert. Ein Mädchen, Susan Blacklock, war verschwunden, ihre Leiche wurde nie gefunden. Elder hatte Macdonald und seinen Komplizen im Verdacht, konnte ihnen aber nichts nachweisen. Er hat der Mutter versprochen, die Täter zu finden, aber er hat das Versprechen nicht einlösen können. All das wird aufgerührt, als er von der Entlassung erfährt.

Kurz entschlossen und ohne so recht zu wissen, was er eigentlich tut, macht er sich auf an den Ort, an dem Susan damals zuletzt gesehen wurde. Und er gerät mitten hinein in einen neuen Fall, der den damaligen gleicht. Wieder verschwindet ein Mädchen. Shane Macdonald, inzwischen auf der Flucht, gerät in Verdacht.
In Parallelmontagen schneidet Harvey nun Frank Elders Ermittlung und Macdonalds Flucht gegeneinander. Die Frage, ob man einen wie ihn nicht für immer einsperren sollte, wird gestellt. Zu zeigen, wie das möglich wird, was geschieht, die Darstellung der Zusammenhänge, in denen Menschen zu Unmenschen werden, gewinnt in Harveys Krimi ebenso sehr an Bedeutung wie die eigentliche Handlung. Der Blick ist der eines sehr genauen Beobachters. Es ist Harveys große Kunst, solche Mischverhältnisse und Unklarheiten zuzulassen. Die Figuren werden nicht zu Tode erklärt. Das gilt für die zentralen Charaktere, aber auch für die, die eher nebenbei auftreten.
Und weil es um Milieus geht und sozial genau verortete Psychodynamiken, ist auch der Kriminalplot nicht Zweck, sondern einfach Grund und Boden des Romans. Die Morde, die geschehen, bringen Menschen als Opfer und Täter in Berührung und damit in Beziehungen, die sie sonst nicht hätten. Es gibt Gründe, warum einer der wird, der er dann ist. Das führt "Schrei nicht so laut", ohne zu urteilen, vor. Wer sich von Kriminalliteratur nicht Tröstung erwartet und Vereinfachung komplizierter Verhältnisse, sondern Aufklärung, die nichts besser, nur manches verständlich macht; wer einen Blick auf die problematischen Lagen der Gesellschaft sucht, der ist bei John Harvey an der besten Adresse.

John Harvey Schrei nicht so laut • dtv •9,90 €
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