Webwecker Bielefeld: Ingrid Kurz-Scherf, Imke Dzewas, Anja Lieb, Marie Reusch, »Reader Feministische Politik und Wissenschaft. Positionen, Perspektiven, Anregungen aus Geschichte und Gegenwart« (November, 2006)

Ingrid Kurz-Scherf, Imke Dzewas, Anja Lieb, Marie Reusch, »Reader Feministische Politik und Wissenschaft. Positionen, Perspektiven, Anregungen aus Geschichte und Gegenwart« (November, 2006)



»Aber die Freiheit ist unteilbar! Also freie Männer dürfen keine Sklaven neben sich dulden – also auch keine Sklavinnen. Wir müssen den redlichen Willen oder die Geisteskräfte aller Freiheitskämpfer in Frage stellen, welche nur díe Rechte der Männer, aber nicht zugleich auch die der Frauen vertreten. (...) Sie werden ewig zu den „Halben“ gehören, und wenn sie auch noch so stolz auf ihre entschiedene Gesinnung sein sollten,« so Louise Otto, 1948, in »Die Frauen-Zeitung«, Jg.1, Nr.1. Eine eindeutige Position einer Feministin der frühen Frauenbewegung, in ihrer Aussage auch heute nicht bedeutungslos, auch wenn es aktuell vielleicht weniger überzeugte Genossen gibt als zu ihrer Zeit.

Die Marburger Politologinnen Ingrid Kurz –Scherf, Imke Dzewas, Anja Lieb und Marie Reusch sind die Herausgeberinnen dieses Readers, der sich insbesondere an StudentInnen richtet, die sich  »erstmals mit der politischen Dimension des Geschlechterverhältnisses bzw. mit den geschlechtspolitischen Dimensionen von Politik und Politikwissenschaft« auseinandersetzen. So hoffen sie anhand der ausgesuchten kurzen und prägnanten Texte eine grundlegende Annäherung an sowohl historische als auch aktuelle feministische Debatte und Wissenschaft zu ermöglichen und anzuregen. Die Auswahl erfolgte nach folgenden Kriterien: das bearbeitete Thema sollte für die Frauenbewegung »relevant« sein, in früheren und späteren Auseinandersetzungen »eine Rolle gespielt haben«, auch aktuell »interessant« sein und argumentieren. Insgesamt stammt der Großteil der Texte von deutschsprachigen Autorinnen, wenige Ausnahmen sind z.B. die Italienerin Rossana Rossanda, die Russin Alexandra Kollontai oder der Niederländerin Anja Meulenbelt.

Aufgeteilt ist der Reader in drei Abschnitte: der erste Teil bezieht sich auf die »frühe Frauenbewegung« beginnend mit der Französischen Revolution und Olympe de Gouges und reicht bis in das frühe 20. Jahrhundert. Vorgestellt werden u.a. Texte von Hedwig Dohm, Alexandra Kollontai, und Berta von Suttner, die Themen sind so vielfältig wie die Hintergründe der Aktivistinnen und reichen vom Wahlrecht für alle über Fragen der Sexualmoral bis zu Antikriegspositionen. Deutlich werden die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Teilen der Frauenbewegung, des bürgerlichen und des eher proletarisch orientierten Flügels, die aufgrund ihres ideologischen Hintergrundes unterschiedliche, mitunter auch gegensätzliche Positionen vertreten und verfolgen.

Im zweiten Teil geht es um die »Autonome Frauenbewegung«. Die aufgeführten Texte wurden in der Mehrzahl in den 70er und 80er Jahren veröffentlicht und stammen u.a. von Aktivistinnen und Theoretikerinnen wie Kate Millett, Alice Schwarzer, Maria Mies, Anja Meulenbelt. In den Texten werden relevante Themen wie »Frieden und Abrüstung«, »Reproduktionsarbeit« oder »Gewalt gegen Frauen« bearbeitet. Auch in diesem Teil werden Kontroversen deutlich, die ungeklärt bleiben bzw. zu unterschiedlichen politischen Einschätzungen und konkreten Strategien führen.

Der dritte Teil schließlich führt in die feministische Politikwissenschaft an den Universitäten, ein. Die Herausgeberinnen stellen fest, dass die Institutionalisierung feministischer Politikwissenschaft erst seit den 90er Jahren voranschreitet. Es geht inhaltlich »vor allem um das Freilegen geschlechtsspezifischer Konstruktionsprinzipien bestimmter Politikinhalte –felder, die diskriminierende Wirkung entfalten.« Einige der vorgestellten Autorinnen sind Claudia von Braunmühl, Nancy Fraser und selbstverständlich Judith Butler.

Der Reader liest sich spannend, ist spannungsgeladen angesichts der Debatten und Kontroversen. Ein Beispiel: 1978 plädoyiert Alice Schwarzer für den Zugang der Frauen zum Militär, dieser Position wird  heftigst von Friedensaktivistinnen widersprochen. Aktuell erscheint dieser Streit müßig angesichts der (Kriegs)Einsätze bundesdeutscher Soldaten und Soldatinnen  weltweit. Gleichzeitig wird diese Realität durch die Texte nochmals grundsätzlich infrage gestellt. Dieses Beispiel macht deutlich, wie grundsätzlich und schnell sich die BRD-Gesellschaft nicht nur bezüglich der Frauenfrage gerade in den letzten 15 Jahren verändert hat, wie sich die politischen Debatten aus den Alltag an die Universitäten verlagern und damit in gewisser Weise auch elitär werden.

Die Texte aus der frühen und der autonomen Frauenbewegung lesen sich in der Mehrzahl angenehm schwungvoll und kämpferisch, der Ton macht Spaß und ermuntert, ermutigt! Leider fehlt die Auseinandersetzung der autonomen Frauenbewegung im Hinblick auf Seperatismus und (eigenem) Rassismus und Antisemitismus, die zu starken Kontroversen und Brüchen und vielen offenen Fragen führte. Anja Meulenbelt beschäftigte sich ausführlich mit dieser Frage und veröffentlichte ein interessantes Buch: »Scheidelinien, über Rassismus, Seximus und Klassismus, 1993«. So fehlen in diesem Zusammenhang wichtige Hinweise auf bekannte Feministinnen wie Bell Hooks oder May Ayim.  Diese Debatte, die immer noch aktuell ist angesichts der Verknüpfungen der Unterdrückungsverhältnisse Rassismus und Sexismus gekoppelt mit der »Klassenfrage«. Deutlich wird dies z.B. am gesellschaftlichen Umgang mit Illegalisierten, an der Debatte um die Haus- oder Pflegearbeit, als Lektüre empfohlen sei Bridget Andersons »Doing the Dirty Work«, 2006, Assoziation A.

Dennoch ein empfehlenswerter Titel, der seinem Anspruch Neugier zu wecken, mit Sicherheit gerecht wird.           

Ingrid Kurz-Scherf, Imke Dzewas, Anja Lieb, Marie Reusch, »Reader Feministische Politik und Wissenschaft. Positionen, Perspektiven, Anregungen aus Geschichte und Gegenwart«, Ulrike Helmer Verlag 2006, 259 S., 20 Euro

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