Webwecker Bielefeld: Körper auf der Bühne (01.11.2006)

Körper auf der Bühne (01.11.2006)



Foto: Tom Dombrowski


Von Manfred Horn

Das Theater soll kein Double der Realität sein, sondern die Realität. Antoine Artaud hat dies gesagt, und sich damit jede Menge Ärger eingehandelt. Denn dieser Satz funktioniert nicht wirklich: Dagegenzuhalten wäre, dass Theater keine Realität ist, sondern Spiel. Also als solche in so weit Realität, wie Spiel Realität ist. Den Gedanken weiter getrieben: Alles ist Theater, wie Goffman sagt. Wenn aber alle tagein, tagaus, Theater spielen, braucht niemand in ein Theater zu gehen, wenn er es in seiner Küche oder an der Bushalte erleben kann.

Das wäre schade, denn dann würde sich niemand ›Double‹ nach Antoine Artaud im Theaterlabor ansehen. Artaud suchte die Fesseln des bürgerlichen Schauspiels zu sprengen. 1896 in Marseille geboren, endete er in den 1940ern in Nervenheilanstalten und starb dort 1948. Das Theaterlabor Bielefeld begibt sich nun in einer Inszenierung auf die Spuren Artauds. Der war radikal – aber wie bringt man Entwurzelung auf die Bühne, ohne den ästhetischen Raum zu sprengen?

Antonine Artaud wollte ein grausames Theater, was er in einem weiteren Sinn, über das physikalische und exkrementische hinausgehend – verstand. Siegmar Schröder, der ›Double‹ inszenierte, hat daraus ein elementares Theater gemacht. Im Mittelpunkt: Der Körper. Das neunköpfige Ensemble, eine Mischung aus Schauspielern des Theaterlabors und für diese Produktion gewonnene Tänzer, wird physikalisch, ohne jedoch Schmerz beim Publikum zu verursachen.

So verführt die Inszenierung mit einer ganz eigenen Poesie: Fragmentarisch, beweglich und essentiell blubbert und raschelt der Zuschauer durch ein Leben, das auch seines sein könnte. Ein luzider Traumgang, für den der international bekannte Choreograf Ismael Ivo, der für diese Inszenierung erstmals mit Siegmar Schröder zusammenarbeitete, den Mensch auf die Mechanik des Körpers reduziert hat – auch im Plural ein Körper bleibend. Manche Szenen wirken wie eine gigantische Body Machine, die gleichwohl organisch funktioniert.


Über sich sprechen

Die Themen, die erzählt werden, sind dabei die großen: Die Liebe und der Kampf zwischen den Geschlechtern, die körperliche Kommunikation von Frauen und Männern unter sich. Das Gesehene verdichtet sich im Kopf: So sind die Szenen, in den Männer sich ganz körperlich die Meinung sagen oder eine Frau am Rande des Abgrundes wandelt, zwei der Höhepunkte. Auch sehr schön: Der Schauspieler Thomas Behrend erzählt von sich, tatsächlich von sich als Thomas Behrend. Spricht eine Wahrheit, wie er sie als Person empfindet, bringt sie auf die Bühne – und trägt schwer daran.

Unterstrichen wird das tanzende Körperspiel mit Musik: Karl Godejohann schlägt Perkussion und Willem Schulz bearbeitet sein Cello. Beide zusammen komponierten die Musik zum Stück. Ihre Töne wirken. Sie verdichten dramatisch und verwischen da, wo sich die Spieler in eine Masse schwimmender Einzeller verwandeln. Als weiteres Element kommt Video zum Einsatz. Die Notwendigkeit dieses Mediums bleibt allerdings im Dunkeln, zumal es sich im Artaudschen Sinn nicht um ein authentisches Medium handeln dürfte. Einführende Leinwand-Bekenntnisse unter anderem des Regisseurs, zu Artaud sorgen vielmehr für einen flimmernden Überbau, der nach einer flammenden Umsetzung auf der Bühne verlangt. Den das choreographierte Schauspiel aber gar nicht einlösen kann.


Körper verbinden

Am 1. und 2. November zeigt das Theaterlabor ›Double‹ nochmals im Tor 6. Wer ein rundes Stück erwartet, sollte fernbleiben. Zerstreuung ist angesagt, und das im doppelten Sinn: Denn das Spiel über Artaud wirkt diffus und assoziativ bis hinein in die Metapher eines Urzustandes. Das Stück zerstreut aber auch auf andere Weise: Es unterhält. Denn, und das ist der Clou von Theater, auch Grausamkeit will dem Gaumen schmecken. Die enorme Körperlichkeit der Akteure verbindet, weil beide, Zuschauer und Spieler, auf ähnliche Erfahrungen zurückgreifen können. Zur Zerstreuung trägt auch ein ganz entspannter Break bei, bei dem die Spieler den Zuschauern ein bisschen näher kommen. Damit fällt die Trennung zwischen Bühne und Publikumsraum keineswegs, wie es Artaud als Ziel formuliert hat. Es ist vielmehr so, dass die Schauspieler sich ins Publikum begeben. Wer sich auf eine etwas andere – keineswegs grausame – Reise in eine Grenzregion des Theaters begeben will, wo der Körper vor dem Wort steht, dem sei der Besuch des Stückes in jedem Fall empfohlen.

 

Die nächsten und zunächst letzten Aufführungen: Mittwoch, 1. November und Donnerstag, 2. November, jeweils 20 Uhr, Theaterlabor im Tor 6, Kartenreservierungen: 0521. 2705607