Von Manfred Horn
Das
Theater soll kein Double der Realität sein, sondern die Realität. Antoine
Artaud hat dies gesagt, und sich damit jede Menge Ärger eingehandelt. Denn
dieser Satz funktioniert nicht wirklich: Dagegenzuhalten wäre, dass Theater
keine Realität ist, sondern Spiel. Also als solche in so weit Realität, wie
Spiel Realität ist. Den Gedanken weiter getrieben: Alles ist Theater, wie
Goffman sagt. Wenn aber alle tagein, tagaus, Theater spielen, braucht niemand
in ein Theater zu gehen, wenn er es in seiner Küche oder an der Bushalte
erleben kann.
Das
wäre schade, denn dann würde sich niemand Double nach Antoine Artaud im
Theaterlabor ansehen. Artaud suchte die Fesseln des bürgerlichen Schauspiels zu
sprengen. 1896 in Marseille geboren, endete er in den 1940ern in
Nervenheilanstalten und starb dort 1948. Das Theaterlabor Bielefeld begibt sich
nun in einer Inszenierung auf die Spuren Artauds. Der war radikal aber wie
bringt man Entwurzelung auf die Bühne, ohne den ästhetischen Raum zu sprengen?
Antonine
Artaud wollte ein grausames Theater, was er in einem weiteren Sinn, über das
physikalische und exkrementische hinausgehend verstand. Siegmar Schröder, der
Double inszenierte, hat daraus ein elementares Theater gemacht. Im
Mittelpunkt: Der Körper. Das neunköpfige Ensemble, eine Mischung aus
Schauspielern des Theaterlabors und für diese Produktion gewonnene Tänzer, wird
physikalisch, ohne jedoch Schmerz beim Publikum zu verursachen.
So
verführt die Inszenierung mit einer ganz eigenen Poesie: Fragmentarisch,
beweglich und essentiell blubbert und raschelt der Zuschauer durch ein Leben,
das auch seines sein könnte. Ein luzider Traumgang, für den der international bekannte Choreograf Ismael Ivo,
der für diese Inszenierung erstmals mit Siegmar Schröder zusammenarbeitete, den Mensch auf die Mechanik des Körpers reduziert hat auch im Plural ein Körper
bleibend. Manche Szenen wirken wie eine gigantische Body Machine, die
gleichwohl organisch funktioniert.
Über sich sprechen
Die
Themen, die erzählt werden, sind dabei die großen: Die Liebe und der Kampf
zwischen den Geschlechtern, die körperliche Kommunikation von Frauen und
Männern unter sich. Das Gesehene verdichtet sich im Kopf: So sind die Szenen,
in den Männer sich ganz körperlich die Meinung sagen oder eine Frau am Rande
des Abgrundes wandelt, zwei der Höhepunkte. Auch sehr schön: Der Schauspieler
Thomas Behrend erzählt von sich, tatsächlich von sich als Thomas Behrend.
Spricht eine Wahrheit, wie er sie als Person empfindet, bringt sie auf die
Bühne und trägt schwer daran.
Unterstrichen
wird das tanzende Körperspiel mit Musik: Karl Godejohann schlägt Perkussion und
Willem Schulz bearbeitet sein Cello. Beide zusammen komponierten die Musik zum
Stück. Ihre Töne wirken. Sie verdichten dramatisch und verwischen da, wo sich
die Spieler in eine Masse schwimmender Einzeller verwandeln. Als weiteres
Element kommt Video zum Einsatz. Die Notwendigkeit dieses Mediums bleibt
allerdings im Dunkeln, zumal es sich im Artaudschen Sinn nicht um ein
authentisches Medium handeln dürfte. Einführende Leinwand-Bekenntnisse unter
anderem des Regisseurs, zu Artaud sorgen vielmehr für einen flimmernden Überbau,
der nach einer flammenden Umsetzung auf der Bühne verlangt. Den das
choreographierte Schauspiel aber gar nicht einlösen kann.
Körper verbinden
Am 1.
und 2. November zeigt das Theaterlabor Double nochmals im Tor 6. Wer ein
rundes Stück erwartet, sollte fernbleiben. Zerstreuung ist angesagt, und das im
doppelten Sinn: Denn das Spiel über Artaud wirkt diffus und assoziativ bis
hinein in die Metapher eines Urzustandes. Das Stück zerstreut aber auch auf
andere Weise: Es unterhält. Denn, und das ist der Clou von Theater, auch
Grausamkeit will dem Gaumen schmecken. Die enorme Körperlichkeit der Akteure
verbindet, weil beide, Zuschauer und Spieler, auf ähnliche Erfahrungen
zurückgreifen können. Zur Zerstreuung trägt auch ein ganz entspannter Break
bei, bei dem die Spieler den Zuschauern ein bisschen näher kommen. Damit fällt
die Trennung zwischen Bühne und Publikumsraum keineswegs, wie es Artaud als
Ziel formuliert hat. Es ist vielmehr so, dass die Schauspieler sich ins
Publikum begeben. Wer sich auf eine etwas andere keineswegs grausame Reise
in eine Grenzregion des Theaters begeben will, wo der Körper vor dem Wort
steht, dem sei der Besuch des Stückes in jedem Fall empfohlen.
Die
nächsten und zunächst letzten Aufführungen: Mittwoch, 1. November und Donnerstag, 2. November,
jeweils 20 Uhr, Theaterlabor im Tor 6, Kartenreservierungen: 0521. 2705607