Webwecker Bielefeld: Die Schwierigkeit mit der Kultur (28.06.2006)

Die Schwierigkeit mit der Kultur (28.06.2006)





Wollen in Zukunft noch mehr beraten: Die Mitarbeiterinnen des Frauennotrufs: (v.l.n.r.) Suna Baris, Tatjana Knoop, Magdalene Sadura, Stephanie
Koch, die Referentin Nivedita Prasad und Melanie Rosendahl




Von Manfred Horn

Der Frauennotruf feierte in der vergangenen Woche das fünfjährige Bestehen seines Angebots für türkischsprachige Frauen. Mit den üblichen Bauchschmerzen, denn statt Frauen zu beraten und zu begleiten, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, wäre es besser, diese Gewalt würde es gar nicht geben. Dann wäre die Beratung auch überflüssig. Aber davon ist die Realität weit entfernt.

Dem Frauennotruf ist schon länger klar, dass migrierte Frauen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, ein muttersprachliches Angebot brauchen. »Vielfach haben die Betroffenen keine Möglichkeiten sich an Hilfeeinrichtungen zu wenden, zum Teil mangels Sprachkenntnissen«, erklärt Suna Baris, eine der türkischsprachigen Beraterinnen des Frauennotrufs, und fügt hinzu:»Auch weil ihre Familien sie daran hindern«. Die Stärke der Beratung durch den Frauennotruf sei: »Bei uns brauchen sie neben ihrer Gewalterfahrung nicht zusätzlich ihre Kultur, Herkunft und familiären Zusammenhänge erklären«.

Kultur war auch das Stichwort, das Nivedita Prasad in ihrem Vortrag bei der kleinen Feier in der Ravensberger Spinnerei aufgriff. Die ist nämlich in vielfacher Hinsicht eine entscheidende Größe. Die Pädagogin, die viele Jahre in einem Mädchenhaus in Berlin arbeitete und dort nun in einer Beratungsstelle für Frauen, die Opfer von Mädchenhandel geworden sind, tätig ist, sieht die Wichtigkeit von Kultur. Überhaupt sei in den USA erst wenige Jahre her, dass offen über Vergewaltigungen schwarzer Frauen durch schwarze Männer gesprochen werde. Vorher galt innerhalb der Community: Täter sind immer die Weißen, schwarze Männer tun so etwas nicht.

Viele schwarze Frauen hätten zuvor über solche Gewalterfahrungen nicht berichtet, in dem Wissen, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft nach solchen Nachrichten giert. Prasad kennt dies auch aus ihrer eigenen Praxis. Sie berichtet von Mädchen, die über die erlebte sexuelle Gewalt in Beratungsstellen erzählen, aber wochenlang verschweigen, dass der Täter ebenfalls ihre ethnische Herkunft hat. Prasad weiß auch warum: »Therapeutinnen sehen dann häufig kulturelle Ursachen für die Tat«. Damit entsteht für die Betroffenen eine paradoxe Situation. Sie fangen an, den Täter zu verteidigen, weil sie nicht wollen, dass schlecht über ihre Herkunft geredet wird, sagt Prasad.


Kultur statt Rasse

Die Frage, die in den vergangenen Monaten auch in den großen Medien diskutiert wurde, lautet: Ist die türkische Kultur besonders gewalttätig? Die türkeistämmige Autorin Necla Kelek beispielsweise zieht durch die Lande und behauptet: »Bei uns gehört Brutalität zur Kultur«. Deutschen Medien greifen eine solche Meinung gerne auf, können sie doch so ihren Rassismus im Gewand der Kultur pflegen. Zwar ist die Debatte noch nicht abgeschlossen. Aber alleine die Verhandlung von Urteilen, die alle auf bestimmten Annahmen einer angeblich für die gesamte türkische Gesellschaft gültigen Kultur beruhen, mache etwas mit den türkischen Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind, erläutert Prasad. Sie nennt das Beispiel von Jamila. Die ist zwar nicht Türkin. Aber das Muster lasse sich ohne weiteres übertragen, sagt Prasad. Jamila, eine Frau in den Vierzigern, lebe seit 20 Jahren mit einer falschen Identität. Sie erzählt überall, sie heiße Jamila, weil ihre Eltern so gerne Dostojewski gelesen hätten.




Frauen grenzen sich von ihrer Herkunft ab. Prasad spricht von »internalisiertem Rassismus«


Das mag so sein, und Jamila ist ein Name, der auch in Russland vorkommt. Die konktrete Person aber verleugnet damit ihre marokkanische Herkunft. Es hat gedauert, bis Prasad herausbekommen hat, wie die Dinge zusammenhängen: Jamila sei junge Frau von einem Marokaner vergewaltigt worden. Seitdem leugnet sie ihre Herkunft. »Sie grenzt sich dadurch ab, dass sie mit diesem Teil ihrer Geschichte nichts mehr zu tun haben möchte«, sagt Prasad und spricht von »internalisiertem Rassismus«.

Offenbar gehe Jamila davon aus, dass die marokkanische Kultur besonders gewalttätig ist. Zwar hat sie sexualisierte Gewalt tatsächlich von einem marokinischen Mann erfahren, doch die These, islamische Gesellschaften seien besonders gewalttätig, existiert unabhängig davon. »Solche Thesen leisten internalisiertem Rassismus Vorschub«, sagt Prasad. Die Folge bei Jamila: Sie will mit ihrer Herkunftskultur nichts mehr zu tun haben. Prasad kennt auch eine junge türkische Frau, die als Aishe ins Frauenhaus gekommen ist und als Anja herausging. Sie legte den türkischen Teil ihrer Identität ab und betonte den deutschen, ihr richtiger Name war nämlich ein Doppelname: Aishe-Anja. »Coconut« heißen diese Menschen in den USA: Aussen schwarz, innen weiß.

An den Kulturalisierungen, die mit folgenreichen Identitätsverschiebungen enden, seien auch die Frauen Schuld, die die Betroffenen beraten. Es ist eben kein Zufall, dass Aishe als Anja aus dem Frauenhaus herausging. »Mit deutschen Frauen, die in die Beratung kommen, studiert auch niemand die Bibel«, meint Prasad, wissend, dass eine Koranexegese bei islamischen Frauen durch die deutschen Beraterinnen schon mal vorkommen kann. Prasad plädiert dafür, Kultur nicht als feststehende Größe zu betrachten.

Die Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber die Vielschichtigkeit und Dynamik von Kultur wird dennoch gerne ausgeblendet. Eine Untersuchung aus den USA zeigt: Eine kulturspezifische Sicht wirkt bei Straf-Prozessen, in denen es um sexualisierte Gewalt geht, immer täterentlastend. »Kultur ist dann wie ein Kokon, in dem sich Menschen, vor allem Männer, verstecken und Gewalt ausüben können«, sagt Prasad. Sie berichtet von einem chinesischen Mann, dem das Gericht mildernde Umstände zubilligte, weil er behauptete, es sei in seiner Kultur üblich, seine Frau zu erschießen, wenn sie den Mann hintergangen habe.

Kultur hat die Biologie als rassistisches Argument abgelöst. Prasad zitiert Angela Davis, die vor Jahren sagte, man spreche nicht mehr von Rasse sondern von Kultur, meine aber das selbe. Prasad empfiehlt, beim Lesen von Zeitungsartikeln das Wort Kultur durch Rasse zu ersetzen und verspricht selbst bei der alternativen ›Taz‹ erschreckende Ergebnisse. Zudem fehle bei einer kulturellen Betrachtung die soziale Dimension: Wenn Migrantinnen nicht zur Beratung kommen, würde gerne kulturell spekuliert: Sie komme nicht, weil es ihrer Kultur nicht entspreche und ähnliches. Vielleicht aber fehlt ihnen einfach das Geld für den Bus zur Beratungsstelle oder aber ihr Aufenthalt ist illegal.


Nicht den Blick auf das Individuum verstellen

Doch Prasad geht nicht soweit, Kultur zu verdammen. Damit würde sie einer türkischsprachigen Beratung von Opfern sexualisierter Gewalt eine Absage erteilen. Wenn Kultur keine Rolle spielt, könnten eben auch deutsche Beraterinnen den Job übernehmen. »Kultur ist nicht unwichtig, aber nicht jedes Verhalten ist kulturell bedingt», sagt sie. Und: Kultur dürfe nicht den Blick auf das Individuum verstellen. Zentral sei vielmehr die Migrationserfahrung. Sie als jemand mit der Herkunft Indien habe nicht oft andere Inderinnen beraten, wohl aber Migrantinnen. Die fühlen sich bei ihr besser verstanden, eben weil die Migrationserfahrung geteilt werde.

Prasad erzählt von einer jungen türkischen Frau, die sie beraten hat. Die Frau wurde Opfer einer Vergewaltigung. Sie sprach perfekt deutsch und türkisch. Als sie jedoch in der deutschen Sprache distanziert über die Tat berichtete, kam Prasad auf die Idee, die Frau auf türkisch sprechen zu lassen. »Ich kann zwar nur drei Wörter türkisch, aber das tat nichts zur Sache«, erzählt sie. Denn nachdem die Frau in ihrer Muttersprache reden konnte, kamen die Gefühle hoch, wurde ein therapeutischer Prozess möglich, der dann in deutscher Sprache fortgesetzt werden konnte.


Kulturwissen kann Verarbeitung unterstützen

Dies ist der Punkt, an dem Prasad Kultur als etwas Positives begreift, dass den Verarbeitungsprozess unterstützen kann. Dazu zählen auch nonverbale Äußerungen von Klientinnen. Wenn indische Frauen Trauer tragen, tragen sie nicht schwarze, sondern weiße Kleidung. Trauer kann dort auch heißen, sich die Haare auszureißen. Wer das als Therapeutin weiß, ist klar im Vorteil. Prasad gibt aber kein Rezeptheft heraus, ein Handbuch unter der Überschrift: »Das tun Inderinnen, wenn sie verzweifelt sind«.

Einerseits plädiert sie für eine migrantenspezifische Beratung, weil dann der Kontakt und die Verarbeitung der Gewalterfahrungen leichter falle, andererseits wehrt sie sich vehement dagegen, das Individuum einer behaupteten einheitlichen Kultur unterzuordnen. Und Prasad traut sich, neben der geschlechtsspezifischen Frage auch die herkunftsspefische zu stellen. Will sagen: Mitarbeiterinnen, die mit Frauen arbeiten, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, sind nicht automatisch vor Rassimus gefeit. Auf diesem schmalen Grat zu wandeln um eine möglichst nicht-rassistische Arbeit für die Klientinnen zu erreichen, ist das Ziel Prasads.

Der Frauennotruf in Bielefeld ist da offenbar schon ziemlich weit: Immerhin gibt es neben dem türkischsprachigen auch ein russischsprachiges Angebot. Das gebe es nicht einmal in Berlin, stellt Prasad heraus. Rund 20 Stunden pro Woche Beratung und Begleitung von Frauen mit dem Herkunftsland Türkei sind zur Zeit beim Frauennotruf üblich. Bei, wie sollte es anders sein, ungesicherter Finanzierung, wie die Notruf-Mitarbeiterin Suna Baris betont. Sechs Frauen seien zur Zeit bei ihr in Beratung. Andere Betroffene schafften es nicht in die Beratungsstelle, mangels Sprachkenntnissen, sozialer Isolation und anderer Probleme. »Wir wollen unsere Arbeit noch verstärken«, sagt Baris und kündigt an, die Öffentlichkeitsarbeit noch zu verstärken.


Der Frauennotruf ist unter der Telefonnummer 124248 zu erreichen.
Im Netz: http://www.frauennotruf-bielefeld.de