Wollen in Zukunft noch mehr beraten: Die
Mitarbeiterinnen des Frauennotrufs: (v.l.n.r.) Suna Baris, Tatjana
Knoop, Magdalene Sadura, Stephanie
Koch, die Referentin Nivedita Prasad und Melanie Rosendahl
Von Manfred Horn
Der Frauennotruf feierte in der vergangenen Woche das fünfjährige
Bestehen seines Angebots für türkischsprachige Frauen. Mit den üblichen
Bauchschmerzen, denn statt Frauen zu beraten und zu begleiten, die
sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, wäre es besser, diese Gewalt
würde es gar nicht geben. Dann wäre die Beratung auch überflüssig. Aber
davon ist die Realität weit entfernt.
Dem Frauennotruf ist schon länger klar, dass migrierte Frauen, die
von sexualisierter Gewalt betroffen sind, ein muttersprachliches
Angebot brauchen. »Vielfach haben die Betroffenen keine Möglichkeiten
sich an Hilfeeinrichtungen zu wenden, zum Teil mangels
Sprachkenntnissen«, erklärt Suna Baris, eine der türkischsprachigen
Beraterinnen des Frauennotrufs, und fügt hinzu:»Auch weil ihre Familien
sie daran hindern«. Die Stärke der Beratung durch den Frauennotruf sei:
»Bei uns brauchen sie neben ihrer Gewalterfahrung nicht zusätzlich ihre
Kultur, Herkunft und familiären Zusammenhänge erklären«.
Kultur war auch das Stichwort, das Nivedita Prasad in ihrem Vortrag
bei der kleinen Feier in der Ravensberger Spinnerei aufgriff. Die ist
nämlich in vielfacher Hinsicht eine entscheidende Größe. Die Pädagogin,
die viele Jahre in einem Mädchenhaus in Berlin arbeitete und dort nun
in einer Beratungsstelle für Frauen, die Opfer von Mädchenhandel
geworden sind, tätig ist, sieht die Wichtigkeit von Kultur. Überhaupt
sei in den USA erst wenige Jahre her, dass offen über Vergewaltigungen
schwarzer Frauen durch schwarze Männer gesprochen werde. Vorher galt
innerhalb der Community: Täter sind immer die Weißen, schwarze Männer
tun so etwas nicht.
Viele schwarze Frauen hätten zuvor über solche Gewalterfahrungen
nicht berichtet, in dem Wissen, dass die weiße Mehrheitsgesellschaft
nach solchen Nachrichten giert. Prasad kennt dies auch aus ihrer
eigenen Praxis. Sie berichtet von Mädchen, die über die erlebte
sexuelle Gewalt in Beratungsstellen erzählen, aber wochenlang
verschweigen, dass der Täter ebenfalls ihre ethnische Herkunft hat.
Prasad weiß auch warum: »Therapeutinnen sehen dann häufig kulturelle
Ursachen für die Tat«. Damit entsteht für die Betroffenen eine paradoxe
Situation. Sie fangen an, den Täter zu verteidigen, weil sie nicht
wollen, dass schlecht über ihre Herkunft geredet wird, sagt Prasad.
Kultur statt Rasse
Die Frage, die in den vergangenen Monaten auch in den großen Medien
diskutiert wurde, lautet: Ist die türkische Kultur besonders
gewalttätig? Die türkeistämmige Autorin Necla Kelek beispielsweise
zieht durch die Lande und behauptet: »Bei uns gehört Brutalität zur
Kultur«. Deutschen Medien greifen eine solche Meinung gerne auf, können
sie doch so ihren Rassismus im Gewand der Kultur pflegen. Zwar ist die
Debatte noch nicht abgeschlossen. Aber alleine die Verhandlung von
Urteilen, die alle auf bestimmten Annahmen einer angeblich für die
gesamte türkische Gesellschaft gültigen Kultur beruhen, mache etwas mit
den türkischen Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden sind,
erläutert Prasad. Sie nennt das Beispiel von Jamila. Die ist zwar nicht
Türkin. Aber das Muster lasse sich ohne weiteres übertragen, sagt
Prasad. Jamila, eine Frau in den Vierzigern, lebe seit 20 Jahren mit
einer falschen Identität. Sie erzählt überall, sie heiße Jamila, weil
ihre Eltern so gerne Dostojewski gelesen hätten.
Frauen grenzen sich von ihrer Herkunft ab. Prasad spricht von »internalisiertem Rassismus«
Das mag so sein, und Jamila ist ein Name, der auch in Russland
vorkommt. Die konktrete Person aber verleugnet damit ihre marokkanische
Herkunft. Es hat gedauert, bis Prasad herausbekommen hat, wie die Dinge
zusammenhängen: Jamila sei junge Frau von einem Marokaner vergewaltigt
worden. Seitdem leugnet sie ihre Herkunft. »Sie grenzt sich dadurch ab,
dass sie mit diesem Teil ihrer Geschichte nichts mehr zu tun haben
möchte«, sagt Prasad und spricht von »internalisiertem Rassismus«.
Offenbar gehe Jamila davon aus, dass die marokkanische Kultur
besonders gewalttätig ist. Zwar hat sie sexualisierte Gewalt
tatsächlich von einem marokinischen Mann erfahren, doch die These,
islamische Gesellschaften seien besonders gewalttätig, existiert
unabhängig davon. »Solche Thesen leisten internalisiertem Rassismus
Vorschub«, sagt Prasad. Die Folge bei Jamila: Sie will mit ihrer
Herkunftskultur nichts mehr zu tun haben. Prasad kennt auch eine junge
türkische Frau, die als Aishe ins Frauenhaus gekommen ist und als Anja
herausging. Sie legte den türkischen Teil ihrer Identität ab und
betonte den deutschen, ihr richtiger Name war nämlich ein Doppelname:
Aishe-Anja. »Coconut« heißen diese Menschen in den USA: Aussen schwarz,
innen weiß.
An den Kulturalisierungen, die mit folgenreichen
Identitätsverschiebungen enden, seien auch die Frauen Schuld, die die
Betroffenen beraten. Es ist eben kein Zufall, dass Aishe als Anja aus
dem Frauenhaus herausging. »Mit deutschen Frauen, die in die Beratung
kommen, studiert auch niemand die Bibel«, meint Prasad, wissend, dass
eine Koranexegese bei islamischen Frauen durch die deutschen
Beraterinnen schon mal vorkommen kann. Prasad plädiert dafür, Kultur
nicht als feststehende Größe zu betrachten.
Die Erkenntnis ist zwar nicht neu, aber die Vielschichtigkeit und
Dynamik von Kultur wird dennoch gerne ausgeblendet. Eine Untersuchung
aus den USA zeigt: Eine kulturspezifische Sicht wirkt bei
Straf-Prozessen, in denen es um sexualisierte Gewalt geht, immer
täterentlastend. »Kultur ist dann wie ein Kokon, in dem sich Menschen,
vor allem Männer, verstecken und Gewalt ausüben können«, sagt Prasad.
Sie berichtet von einem chinesischen Mann, dem das Gericht mildernde
Umstände zubilligte, weil er behauptete, es sei in seiner Kultur
üblich, seine Frau zu erschießen, wenn sie den Mann hintergangen habe.
Kultur hat die Biologie als rassistisches Argument abgelöst. Prasad
zitiert Angela Davis, die vor Jahren sagte, man spreche nicht mehr von
Rasse sondern von Kultur, meine aber das selbe. Prasad empfiehlt, beim
Lesen von Zeitungsartikeln das Wort Kultur durch Rasse zu ersetzen und
verspricht selbst bei der alternativen Taz erschreckende Ergebnisse.
Zudem fehle bei einer kulturellen Betrachtung die soziale Dimension:
Wenn Migrantinnen nicht zur Beratung kommen, würde gerne kulturell
spekuliert: Sie komme nicht, weil es ihrer Kultur nicht entspreche und
ähnliches. Vielleicht aber fehlt ihnen einfach das Geld für den Bus zur
Beratungsstelle oder aber ihr Aufenthalt ist illegal.
Nicht den Blick auf das Individuum verstellen
Doch Prasad geht nicht soweit, Kultur zu verdammen. Damit würde sie
einer türkischsprachigen Beratung von Opfern sexualisierter Gewalt eine
Absage erteilen. Wenn Kultur keine Rolle spielt, könnten eben auch
deutsche Beraterinnen den Job übernehmen. »Kultur ist nicht unwichtig,
aber nicht jedes Verhalten ist kulturell bedingt», sagt sie. Und:
Kultur dürfe nicht den Blick auf das Individuum verstellen. Zentral sei
vielmehr die Migrationserfahrung. Sie als jemand mit der Herkunft
Indien habe nicht oft andere Inderinnen beraten, wohl aber
Migrantinnen. Die fühlen sich bei ihr besser verstanden, eben weil die
Migrationserfahrung geteilt werde.
Prasad erzählt von einer jungen türkischen Frau, die sie beraten hat.
Die Frau wurde Opfer einer Vergewaltigung. Sie sprach perfekt deutsch
und türkisch. Als sie jedoch in der deutschen Sprache distanziert über
die Tat berichtete, kam Prasad auf die Idee, die Frau auf türkisch
sprechen zu lassen. »Ich kann zwar nur drei Wörter türkisch, aber das
tat nichts zur Sache«, erzählt sie. Denn nachdem die Frau in ihrer
Muttersprache reden konnte, kamen die Gefühle hoch, wurde ein
therapeutischer Prozess möglich, der dann in deutscher Sprache
fortgesetzt werden konnte.
Kulturwissen kann Verarbeitung unterstützen
Dies ist der Punkt, an dem Prasad Kultur als etwas Positives
begreift, dass den Verarbeitungsprozess unterstützen kann. Dazu zählen
auch nonverbale Äußerungen von Klientinnen. Wenn indische Frauen Trauer
tragen, tragen sie nicht schwarze, sondern weiße Kleidung. Trauer kann
dort auch heißen, sich die Haare auszureißen. Wer das als Therapeutin
weiß, ist klar im Vorteil. Prasad gibt aber kein Rezeptheft heraus, ein
Handbuch unter der Überschrift: »Das tun Inderinnen, wenn sie
verzweifelt sind«.
Einerseits plädiert sie für eine migrantenspezifische Beratung,
weil dann der Kontakt und die Verarbeitung der Gewalterfahrungen
leichter falle, andererseits wehrt sie sich vehement dagegen, das
Individuum einer behaupteten einheitlichen Kultur unterzuordnen. Und
Prasad traut sich, neben der geschlechtsspezifischen Frage auch die
herkunftsspefische zu stellen. Will sagen: Mitarbeiterinnen, die mit
Frauen arbeiten, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, sind nicht
automatisch vor Rassimus gefeit. Auf diesem schmalen Grat zu wandeln um
eine möglichst nicht-rassistische Arbeit für die Klientinnen zu
erreichen, ist das Ziel Prasads.
Der Frauennotruf in Bielefeld ist da offenbar schon ziemlich weit:
Immerhin gibt es neben dem türkischsprachigen auch ein
russischsprachiges Angebot. Das gebe es nicht einmal in Berlin, stellt
Prasad heraus. Rund 20 Stunden pro Woche Beratung und Begleitung von
Frauen mit dem Herkunftsland Türkei sind zur Zeit beim Frauennotruf
üblich. Bei, wie sollte es anders sein, ungesicherter Finanzierung, wie
die Notruf-Mitarbeiterin Suna Baris betont. Sechs Frauen seien zur Zeit
bei ihr in Beratung. Andere Betroffene schafften es nicht in die
Beratungsstelle, mangels Sprachkenntnissen, sozialer Isolation und
anderer Probleme. »Wir wollen unsere Arbeit noch verstärken«, sagt
Baris und kündigt an, die Öffentlichkeitsarbeit noch zu verstärken.
Der Frauennotruf ist unter der Telefonnummer 124248 zu erreichen.
Im Netz: http://www.frauennotruf-bielefeld.de