Webwecker Bielefeld: tschernobyl

Erinnern an Tschernobyl (12.04.2006)





Eines der Bilder von Igor Kostin, die um die Welt gingen: Die Verbotszone wird kurz nach der Katastrophe eingerichtet


Von Manfred Horn

Am 26. April vor 20 Jahren explodierte Block 4 des ukrainischen »Lenin-Kraftwerks« Tschernobyl. Was folgte, war die bisher größte Katastrophe in der zivilen Nutzung der Atomenergie. Viele Menschen starben und sterben bis heute an den Folgen. Grund für die ›Deutsch-Ukrainische Gesellschaft Bielefeld‹ (DUGB), mit einer Reihe von Veranstaltungen an die Reaktorkatastrophe zu erinnern.

In der Altstädter Nicolai-Kirche wird die Ausstellung »Strahlende Zukunft? Tschernobyl verändert die Welt« vom 24. April bis 6. Mai zu sehen sein. Der heute 70-jährige Fotograph Igor Kostin erhielt in der Nacht, als der Reaktor in die Luft flog, einen Anruf. Als die Welt noch gar nichts wusste, bot man Mitarbeiter der Nachrichtenagentur Nowosti an, mit dem Hubschrauber über den Reaktor zu fliegen und zu fotografieren. Von den ersten drei Filmen konnte er nur ein Bild entwickeln, so stark war die Strahlung. Alle anderen Bilder wurden von der Strahlung schwarz. »Er lebt Tschernobyl«, sagt Petra Krasa, zweite Vorsitzende der DUGB. Über 60mal war in den folgenden Jahren dort. Entstanden ist nun ein eindrucksvoller Bildband, der im Antje-Kunstmann Verlag erschienen ist. Rund 30 Bilder davon zeigt die DUGB nun im A3-Format in der Nicolai-Kirche.

»Meine Fotos zeigen die Geschichte, sind aber auch wie eine Gebrauchsanweisung für die nächsten Generationen«, sagte Kostin kürzlich in einem Interview. Denn die grausige Geschichte zog ihn an wie ein Magnet. Es begann mit den Liquidatoren, die mit Schaufeln und Hacken das zerstörte Kraftwerk aufräumen sollten. Über 100.000 Menschen sind bis heute an den Folgen von Tschernobyl gestorben – die Zahlen schwanken je nach Quelle stark. So legte die Internationale Atomenergie-Behörde (IAEO) vor zwei Wochen einen Bericht vor, dem die erstaunte Öffentlichkeit entnehmen darf, dass weniger als 50 Menschen an den unmittelbaren Folgen der Katastrophe gestorben seien. Als im vergangenen Jahr die IAEO den Friedensnobelpreis erhielt, warfen ihr zahlreiche Kritiker vor, ein Lobbyverband der Atom-Industrie zu sein. Mit dem aktuellen Bericht zu Tschernobyl dürfte sich diese Annahme bestätigen. Eine aktuelle Untersuchung der IPPNW (›Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung) und der ›Gesellschaft für Strahlenschutz‹ geht allein bei den Bergungskräften – den so genannten Liquidatoren – von einer Größenordnung von 50.000 bis 100.000 Toten aus.


Lieber verstrahlt als nichts zu essen

Bis heute sind die Menschen in der Umgebung betroffen. Zwar wurden zahlreiche Dörfer evakuiert und anschließend dem Erdboden gleichgemacht. Doch schnell sind viele Menschen wieder in die Sperrzone zurückgekehrt. Sie leben dort, weil sie woanders keine Perspektive haben. Es sind bitterarme Menschen, die wissen, dass die keine Pilze im Wald pflücken und essen sollen. Sie tun es trotzdem: Von irgendwas muss man sich schließlich ernähren. Die Umgebung des Reaktors, der in der Ukraine nahe der Grenze zu Weißrussland liegt, ist nach wie vor verseucht: Das häufigste Plutonium-Isotop hat eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren.

Hinzu kommt, dass der explodierte Reaktorblock weiter strahlt. Der erste Stahl- Betondecke, die nach der Katastrophe über den Reaktorblock 4 gelegt wurde, ist undicht. Ein zweiter Sarkophag wurde. Er existiert auch heute noch nicht. » Tschernobyl ist für die Ukraine immer noch ein Trauma. Es hat nicht nur gesundheitliche, sondern auch psychologische Folgen«, sagt Tanja Schuh, erste Vorsitzende der DUGB. Schuh weiß, wovon sie spricht: Sie ist in der Ukraine geboren.