Angeklagt wurden Angehörige der Gestapo, des Reichssicherheitsdienstes, der SS und der NSDAP vom Ortsgruppenleiter aufwärts, soweit man ihrer habhaft werden konnte. Immerhin konnten 4.500 Täter im Lager Eselsheide in der Senne festgehalten und anschließend angeklagt werden. Die Schuldfrage aber ergab sich nicht aus der Täterschaft, sondern allein aus der bloßen Kenntnis von den Verbrechen der genannten Organisationen in Sachen Holocaust, Umgang mit Kriegsgefangenen, politischen Gegnern und Zwangsarbeitern, wie Minninger herausstellt. Schuldig war also, wer trotz des Wissens um die Verbrechen ab September 1939, dem Kriegsbeginn, in den Organisationen blieb.
Eine besondere Schwierigkeit war allerdings, dass die Richter und Schöffen zum größten Teil selbst NSDAP-Mitglieder waren.»Das Spruchgericht hatte zu Zeiten 62 Räume im Bielefelder Gerichtskomplex okkupiert, wo sollten all seine unbelasteten Mitarbeiter herkommen«, fragt Minninger. Nach ihrer Recherche bemühten sich nur zwei der Bielefelder Kammern um angemessene Urteile, die bis zu zehn Jahre Haft lauten konnten. Die meisten Verfahren endeten mit geringen Geldstrafen.
Was für die Spruchkammern galt, traf auch auf die Bielefelder Gerichte zu. Kein einziger Bielefelder Richter war bei Kriegsende im Mai 1945 unbelastet, und es gab kaum unbelastete Juristen, die abrufbar gewesen wären. Im Juli 1945 eröffnete das Amtsgericht wieder, im Oktober 1945 das Landgericht, im Oktober 1948 das Schwurgericht. »Selbst die sogenannte Huckepackmethode dass nämlich auf einen unbelasteten Richter ein belasteter käme, musste fallengelassen werden«, sagt Minninger. Ab Juni 1946 wurden bescheinigt entnazifizierte Richter wieder eingestellt, und Anfang der 1950er Jahre durften in Bielefeld sogar ein ehemaliger Staatsanwalt des berüchtigten Volksgerichtshofs und etliche Richter des nicht minder berüchtigten NS-Sondergerichts Bielefeld wieder Recht sprechen, sagt Minninger.
Verwaltung, Bildung, Justiz und Polizei sie alle waren über Jahre, teilweise über Jahrzehnte, dominiert von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Dieser pragmatische Ansatz der britischen Besatzungsmacht, berufliche Kenntnisse höher zu bewerten als die Mentalität und Gesinnung, der später ohne zu Zögern von den Organen der neuen Bundesrepublik übernommen wurde, sicherte in den ersten Jahren nach dem Krieg den staatlichen Alltag. Selbst die SPD, die kurz nach dem Krieg noch vehement gegen NSDAPler in Amt und Würden war, schwieg ab dem Zeitpunkt, wo sie selbst in Regierungen kam. Die KPD als erklärte antifaschistische Partei versank nach Verfolgung und Krieg schnell in der Bedeutungslosigkeit. Entnazifizierung war nur ein oberflächliches Schlagwort, hinter dem sich allerlei Karrieren fortsetzen konnten. Erst die 68er Generation deckte dann auf, was zuvor an der Heimatfront für maximalen Wohlstand verschwiegen wurde: Die personale Kontinuität zwischen der Nazi-Zeit und den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, und das nicht nur im Staatsapparat, sondern auch in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen.