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Vera Broido, »Tochter der Revolution. Erinnerungen« (Teil 2)



Vielmehr spricht aus ihren Erinnerungen ehrlicher Respekt und viel Zuneigung für die Eltern und deren Lebensentscheidungen. Auf den ersten Blick kein Wunder, denn Vera Broido scheint selbst von der Verbannung nach Sibirien mit der Mutter kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges noch zu profitieren. Sie genießt die Freiheit, die ihr immer wieder zugestanden wird, kann sich diese ungewohnte, nahezu idyllische Umgebung erschließen und das Zusammenleben mit der Mutter, die auch hier in der Verbannung Geld für den Lebensunterhalt verdienen muss, genießen. Immer wieder ist die Familie getrennt und unternimmt aus der heutigen Sicht unglaubliche Reisen, um zusammen zu finden und sich in den Dienst der gemeinsamen Sache, der Revolution zu stellen. Dabei erleben sie spontane Unterstützung und Hilfsbereitschaft Unbekannter oder werden vom solidarischen Netz der GenossInnen getragen. Ein unstetes Leben, gleichzeitig geborgen.

Zwei Jahre nach der bolschewistischen Oktoberrevolution muss die Familie fliehen: Nach der Spaltung der Sozialdemokratischen Partei entscheidet sich Eva Broido bewusst für den menschewistischen Flügel, die basisdemokratische Variante. Sie steht damit im Widerspruch zu Lenins autokratischen Führungsanspruch.
Letztlich lässt sich die Familie in Berlin nieder, wo es eine große russische Exilantengemeinde gibt, Politik ist weiterhin möglich. Der größte Teil Vera Broidos Schulbildung stammt aus der Lektüre der großem russischen Dichter und Schriftsteller und der übersetzten Klassiker wie Jack London oder Charles Dickens, da sie erst sehr spät überhaupt in den Genuss eines regelmäßigen Schulalltags kommt. Der ist mitunter auch äußerst ungewöhnlich, so besucht Vera als erstes Mädchen eine bislang reine Jungenschule und hat dort einiges auszuhalten. Nach Beendigung der Schullaufbahn soll Vera an der Sorbonne in Paris studieren, denn selbststsändige Auslandsaufenthalte nutzen der persönlichen Entwicklung. Dort absolviert sie allerdings lieber, mit Zustimmung der Mutter, Mal- und Designkurse bei der russischen Künstlerin Alexandra Exter. Schließlich wird sie aus Geldmangel nach Berlin zurückgeholt. Dort eröffnet die Mutter ein zuerst gutlaufendes Modestudio, in dem Vera mitarbeitet.

1927 entscheidet Eva Broido für die Menschewiki als Kurierin in die Sowjetunion zu gehen. Sie glaubt binnen kürzester Zeit zurück zu sein, Vera soll nur vorübergehend den Salon führen, doch alles kommt ganz anders:
Eva Broido wird in der Sowjetunion erkannt und verhaftet und kehrt nicht zurück. Das Modeatelier, das nie auf sicheren finanziellen Füßen stand geht pleite. Vera Broido lässt sich auf eine menage a trois mit dem Künstler Raoul Hausmann und dessen Ehefrau ein, diese verhängnisvolle Affäre, sie an den Abgrund treibende Beziehung, lebt sie immerhin sieben Jahre lang. Erst dann gelingt es ihr, Raoul Hausmann zu verlassen, „ der an die freie Liebe glaubte, aber die freie Liebe war immer für den Mann, nicht für die Frauen“. Aber auch diese unglückliche, zerstörerische Episode im Leben Vera Broidos erscheint fast trivial angesichts des Schicksals der Mutter Eva. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der darauffolgenden Öffnung der sowjetischen Archive wurde ihr Schicksal gewiß. „Damals wurde enthüllt, dass Mutter 1940 von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt worden war. Während eines erneuten Prozesses war sie dann zu fünfzehn Jahren Haft im Gefängnis von Orel und schließlich in einem dritten Prozeß wieder zum Tode verurteilt worden. Sie wurde am 14.September 1941 erschossen“, so enden Vera Broidos Erinnerungen. Ihre Mutter wurde wie so viele Opfer der stalinistischen Säuberungen.

Vera Broido, »Tochter der Revolution. Erinnerungen«, Edition Nautilus, 2004, 19.90 Euro

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