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Ordentliche Demonstration (09.06.2004)



»Einen wirklich freien Markt« forderte eine Demonstration am vergangenen Mittwoch. Anschließend besuchte ein Teil der Demonstranten die CDU-Wahlkampfveranstaltung und bejubelte Angela Merkel.



Von Mario A. Sarcletti

Höchst ungewöhnlich präsentierte sich eine Demonstration »für einen wirklich freien Markt«, die am vergangenen Mittwoch vom Bahnhof zum Rathaus zog. Die etwa vierzig Personen hatten sich schick gemacht. Die meisten Herren trugen Schlips, die Damen hatten das kleine Schwarze gewählt. Aus dem Lautsprecher dröhnt statt der üblichen Demomusik Klassik. »Normalerweise gehen Nörgler und Miesmacher auf die Straße, heute sagen wir: Ja! Ja zum Staat, ja zum Kapital«, sagt ein Sprecher. Als die Anmelderin der Demonstration die polizeilichen Auflagen verkündet, applaudieren die Anwesenden. Einige grimmig blickende junge Männer tragen den Schriftzug »provoactiv Sicherheit« auf ihren Jacken. »Das Sicherheitspersonal gewährleistet die Sicherheit der Besserverdienenden in unserem Demonstrationszug«, erklärt die Versammlungsleiterin.

Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, öffnet der Himmel seine Schleusen, als fühlte sich da oben jemand durch die prokapitalistische Demonstration bei der Lektüre der gesammelten Werke von Karl Marx gestört. Innerhalb weniger Minuten sind die meisten Demonstranten bis auf die Haut durchnässt, auf dem Transparent mit der Aufschrift »Arbeit, Leistung, Service, Effizienz« verschwimmen die Buchstaben. Dennoch hält die Demonstration unterwegs mehrere Kundgebungen ab, bei denen Experten ihre Rezepte für eine gesunde Wirtschaft verkünden.

Vor einem Schnellrestaurant beschreibt einer von ihnen der »lieben Leistungselite« seine Vision: »Ein Unternehmen muss wie eine heile Familie sein«. Die Hamburgerkette sei ein Beispiel für diese Philosophie. »Es holt die am wenigsten Qualifizierten von der Straße und nimmt ihnen sogar das Denken ab«, so der Experte. Diese Harmonie lasse das Unternehmen lobenswerterweise auch nicht von Gewerkschaften stören, wie das Beispiel einer Pariser Filiale zeige. Dort wurden fünf Mitarbeiter entlassen, weil sie sich gewerkschaftlich organisieren wollten.


Mehr Kinderarbeit

Vor Karstadt thematisiert ein »Herr Dr. Zerstäuber« die Textilproduktion in so genannten Sweatshops und fordert Kinderarbeit auch in Deutschland. »Für die Sicherung des Standorts Deutschland müssen wir die Arbeitsbedingungen an den Weltmarkt anpassen. Das heißt Arbeitszeit rauf, Löhne runter, mehr Kinderarbeit«, fordert der Experte unter dem frenetischen Applaus der Zuhörer.

Die Passanten wirken irritiert, wenn Parolen ertönen wie »Penner und Studenten, gefährden unsre Renten«, »Eure Armut kotzt uns an« oder »Der Markt ist alles, der Rest ist nichts«. Der Slogan ziert auch das Fronttransparent des Zuges, in blauer Schrift auf gelbem Grund. Viele Passanten müssen aber auch grinsen, vor allem als der »Prokap-Bär« wie in der Kindersendung Löwenzahn erklärt, wie ein »schöner Kapitalismus wachsen kann.« Er vergleicht ihn mit einer Blume, die ihre Wurzeln auch immer weiter ausbreitet um möglichst viele Nährstoffe zu kriegen. »Und so wie bei der Blume breitet auch der Kapitalismus seine Wurzeln in der Gesellschaft aus, und wie bei der Blume, saugt er die Nährstoffe von unten nach oben«, weiß der Prokap-Bär.