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»Im Dunkeln« (28.04.2004)




Intensive Momente der Unklarheit: Reader und Ryder Rücken an Rücken



Von Manfred Horn

Es beginnt lakonisch-existenziell: John Ryder ist erfolgreicher Broker, sitzt vor Bildschirmen und verdient auf Knopfdruck Geld. Dennoch – oder gerade deshalb – bewirbt er sich bei dem Schriftsteller Paul Reader, der einen Sekretär sucht. Ein Sinn-Suche-Stück, mit leichter Hand erzählt, könnte es werden. Doch schnell folgt die erste Irritation: Der Schriftsteller Reader nimmt seine dunkle Sonnenbrille ab, und darunter erscheint das Nichts: Die Augen sind weg, zugenäht. Reader hatte einen Unfall, bei dem er beider Augen verlustig ging.

»Was ich von Ihnen möchte, sind ihre Augen«, lautet dann auch die konsequente Forderung des Schriftstellers, der – anders als es sein Name verspricht – mit seiner Blindheit weder schreiben noch lesen kann. Reader gebärt sich als gut gebildet, ordnungsliebend und manchmal auch aufbrausend. Irgendwie alles mit einer Spur Überheblichkeit, die daraus resultiert, Weltnachrichten zu ignorieren und schöngeistig zu sein. Der neue Sekretär als naives Opfer? Mitnichten. Denn bald folgen die nächsten Irritationen: John Ryder begeht kleine Gemeinheiten, die in Angesicht eines Blinden an Ausmaß gewinnen: Er greift zu einer Taktik kleiner Nadelstiche, mit der er geradezu subersiv die geordnete Welt des Schriftstellers unterläuft. Er negiert die Exitenz bestimmter Krawatten und kippt vom sympatisch geläuterten Broker in neuer sozialer Existenz zu einem Arschloch, das Blinde ärgert.

Hier wird die Geschichte zu einem kammergespielten Kriminalstück. Die Kammer gerät dabei zunehmend unter Druck, selbst der Kleiderschrank. Eine große Frage tut sich auf: Wer ist das eigentlich, dieser John Ryder? Die Gruppe 2 des Theaterlabors zeigte am vergangenen Samstag die Premiere dieses Stückes: »Im Dunkeln«. Ein zwei Personen-Stück: Es gibt Reader, gespielt von Jürgen Nentwig, es gibt Ryder, dargestellt von Andreas Bentrup. Dazwischen, dahinter, daneben: niemand.

Eine Leistung im Vorfeld war es, den Roman des britischen Schriftstellers und Kolumnisten Gilbert Adair in Stückform zu bringen. Bentrup kramte die entscheidenen Dialoge aus dem Roman Blindband, in den Proben wurde solange geprüft und verworfen, bis daraus ein Bühnenstück wurde.

Überhaupt eine ungewöhnliche Aufführung für das Theaterlabor. Gediegene Einrichtung mit Holzmöbeln und orientalischem Teppich, intime Atmosphäre zwischen Bücherregal und Kleiderschrank. Keine Effekte, wenig Musik. Da passt es, dass das Stück im kleinen Saal im Theaterlabor aufgeführt wird. Das Publikum ist nah dran an der zunehmend schrecklicher werdenden Intimität der Spieler.

»Im Dunkeln« ist ein sehenswertes Stück. Eine dunkle Spannung hält den Zuschauer in seinem Bann. Die beiden Schauspieler entfalten großartige, intensive Momente, auch wenn ihr Zusammenspiel an einigen Stellen noch mehr von dem geleitet sein könnte, was auf der Bühne tatsächlich passiert. Kleines Manko: Ein stärker differenzierter Spannungsaufbau hätte der Inszenierung nicht geschadet. So weiß der Zuschauer recht lange, das irgendetwas nicht stimmt. Aber die Dramaturgie entfaltet sich kaum, bleibt lange auf gleichbleibendem Niveau. Reader vergibt und vergisst, ohne von zunehmender Unruhe befallen zu werden.

Und zum Schluß? Kommt der Knaller. Und das Stück gewinnt aus dieser Perspektive an Tiefgang. Nicht schöngeistiges Geplenkel, nicht Konkurrenz zwischen Karrieristen. Das Dunkle kommt ans Licht: Schließlich, soviel sei verraten, dreht es sich um sexuellen Missbrauch an Kindern. Um eine grausame Geschichte, wo das Opfer den Täter einholt.


Weitere Aufführungen: Freitag, 30. April, Samstag, 1. Mai und Dienstag, 18. Mai, jeweils 20 Uhr im Tor 6, Theaterlabor. Mehr Infos: <a href="http://www.theaterlabor.de">http://www.theaterlabor.de