Dabei sind Gewerkschaften schon seit Bestehen der Bundesrepublik nicht mehr so konstituiert, wie sie es noch in der Weimarer Republik waren. Es gibt keine politischen Richtungsgewerkschaften mehr und, noch viel wichtiger: die Gewerkschaften funktionieren unter dem Postulat der Sozialpartnerschaft. Gewerkschaften, um mit einem weiteren gepflegten Missverständnis aufzuräumen, treten nicht an, um eine Gesellschaft insgesamt oder auch nur die (noch) offiziell arbeitenden Teile dieser Gesellschaft zu revolutionieren. Was Gewerkschaften per politischer Nachkriegsdefinition tun ist schlicht, innerhalb von Wachstum und Rationalisierung darauf zu achten, dass sogenannte ArbeitnehmerInnen auch etwas vom Kuchen abbekommen. Das taten sie mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Seit der Rekonstituierung der Bundesrepublik 1990 gelingt es den Gewerkschaften immer weniger.
Wer diese Rolle der Gewerkschaften akzeptiert, muss sich dann fragen, was für eine Kraft überhaupt noch von ihnen ausgehen kann. Dazu gibt es verschiedene Antworten. Richtig ist sicherlich, und das ist eine Modernisierung, die Gewerkschaften (sich) leisten müssen, dass endlich von der engen Begrenzung auf die Vertretung von ArbeitnehmerInnen-Interessen heruntergekommen werden muss. Zu ausdifferenziert, zu ichagt und zu arbeitslos ist diese Gesellschaft inzwischen. Der Ruf wird nicht leiser, aus den Gewerkschaften eine soziale Bewegung zu machen. Das heißt aber nicht, sich von solchen Ideen wie Arbeitszeitverkürzung zu verabschieden. Die Umverteilung von Arbeit von denen, die in Überstunden ertrinken hin zu denen, die keine haben, ist nach wie vor ein richtiger Gedanke, auch in Anbetracht der Entwicklung von Produktivität und Neubewertung des humanen Faktors innerhalb des Produktionsprozesses.
Dass die IG-Metall bzw. der Teil in ihr, der jetzt »Traditionalisten« genannt wird, die 35-Stunden Woche im vom Sonnenaufgang schöngeputzten Osten nicht durchsetzen konnte, lag wohl auch daran, dass die Gewerkschaft der vielbeschworenen Basis diese Idee nicht vermitteln konnte. Mag sein, dass die kooperierte Identität, Motto: »Ich bin die Firma« - mögliche schizophrene Steigerung: »Ich bin ein Opel«, im Osten auf Grund der Kollektivsozialisation - der ganze Staat als angebliche Wir-AG - noch ausgeprägter ist als im Westen. Mag sein, dass dort viele Arbeitnehmer den »dritten Weg« wollen, paradoxerweise ein Tarifsystem, dass die Gewerkschaft ver.di bei den kirchlichen Arbeitgebern entschieden bekämpft. Der dritte Weg heißt nämlich in letzter Konsequenz: Verzicht auf jede Form von Streik, Orientierung von Löhnen, Vergütungen und Urlaubsansprüchen an das Wohlergehen von Unternehmen zu koppeln. Wohlgemerkt an das von Unternehmen und nicht an das von UnternehmerInnen, denen es häufig trotz nahezu insolventer Firma erstaunlich gut geht, da sie es verstehen, ihren aus dem Unternehmen entnommenen Wohlstand ins Trockene zu bringen oder in einen nassen Swimming-Pool zu investieren.
Wer den Blick über die Landesgrenzen wagt, kann leicht feststellen, dass die deutsche Gewerkschaftskultur ziemlich am Boden liegt. In Frankreich wird gestreikt, was das Zeug hält. Dabei spielt es keine große Rolle, ob gerade Sozialisten oder ChristdemokratInnen regieren. Intellektuelle mischen sich ein, wenn der Sozialstaat oder die Renten gekürzt werden sollen. Kurz: Dort gibt es eine Kultur der Debatte und eine Kultur der Aktion.