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Barbara Frischmuth, »Die Entschlüsselung«



Titel: Die Entschlüsselung

Barbara Frischmuth entwickelt spielerisch, leicht, eine Geschichte, die sich mehr und mehr verdichtet, dennoch ganz und gar nicht zäh wird.

Ein Dachs als Schlüsselfigur, er taucht auf jeden Fall immer wieder auf in Barbara Frischmuths „Entschlüsselung“, mal nascht er die Himbeeren, mal frißt er die in der Erde versteckten Blumenzwiebeln, mal wird sein nächtliches Röcheln und Schmatzen vermißt. Zudem fällt aus seinem Bauch (ein ausgestopfter Artgenosse, versteht sich) ein verschnürtes Päckchen: scheinbare leere, vergilbte Bögen, angeblich der Briefwechsel zwischen dem türkischem Dichter Nesimi, im 14. Jahrhundert als Ketzer verfolgt und der hiesigen Äbtissin Wendlgard von Leisling, die ca. 100 Jahre früher als Nesimi lebte.

Aber das ist nur eines von vielen Rätseln. Hiesig, das ist die Gegend um den Grundl- oder den Toplitzsee im Salzkammergut, zum einen wunderschöne idyllische von Touristen geschätzte Gegend, zum anderen geschichtsträchtig, in den unterschiedlichsten Epochen, auch in der abgründigsten der Neuzeit, im deutschen Nationalsozialismus. Da verknüpfen sich Namen wie Kaltenbrunner und Eichmann, das geraubte und versteckte Nazigold, mit der Gegend, mit den AnwohnerInnen. „Auch war meine Erinnerung durch die persönliche, regional bedingte Bekanntschaft mit Menschen geformt, die ich in der Privatheit anders erlebt hatte als jene, denen sie geschadet hatten“, das zur örtlichen Eingebundenheit der Ich-Erzählerin, die ebenfalls recht idyllisch, Häuschen mit Garten, am Ortsrand lebt.

Barbara Frischmuth entwickelt spielerisch, leicht, eine Geschichte, die sich mehr und mehr verdichtet, dennoch ganz und gar nicht zäh wird. Da streben unterschiedlichste Personen (ProfessorInnen, HistorikerInnen, Feministinnen, der Pfarrer und letztlich auch die Nachbarin) nach „Entschlüsselung“, spielen sich und der Erzählerin die neusten Erkenntnisse zu, ergehen sich in Verknüpfungen und Mutmaßungen und alles wird irgendwie immer komplexer, undurchsichtiger, irgendwie hängt alles mit allem zusammen, lauter „links“ (in der Sprache des Computerzeitalters), doch wo führt das hin...? Und wer entschlüsselt eigentlich was und warum überhaupt? Auch die/der Lesende kommt nicht drum herum, auch zu entschlüsseln.

Das Nette: die Geschichte wirkt ganz und gar nicht konstruiert, macht Lust auf mehr: auf mehr Verknüpfungen, Widersprüche, Assoziationen („Der Geruch von Pilzen ähnelte auf fatale Weise dem des Geldes“, genußvoll lassen sich solch sinnige Sätze lesen) auf Entschlüsseln.

Und auch immer wieder Konfrontation: „Was war wohl zuerst da? Der Drang einen anderen auf die grausamste Art zu vernichten, oder die Begründung, warum ein anderer auf grausamste Art vernichtet werden sollte? War die Begründung nur ein Vorwand, oder bedurfte es der Begründung, um die Vernichtung erst denkbar und dann durchführbar zu machen?“ – Ein assoziativer Denkanstoß, ein Lesegenuss, nur zu empfehlen! (rk)

Barbara Frischmuth, »Die Entschlüsselung«, AufbauTaschbuchverlag, 2003, 7,95 Euro

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