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Kleinstadt im Filmfieber



Die 41. Internationalen Hofer Filmtage

Impressionen von Harald Manninga

 

Manche halten die Hofer Filmtage für das nach der Berlinale wichtigste Filmfestival in Deutschland. Andere möchten daraus einen Dreiklang machen und zählen das Filmfest München in diese Riege. Doch darüber mögen sich die weiter streiten, denn in Hof geht es nicht um Prestige, Preise und Promis kucken (obwohl man auch davon reichlich erleben kann), sondern zuerst und vor allem um den Film. Dicht gefolgt von Brodwärschd und Fußball.

Rund hundert Filme standen vom 23. bis zum 28. Oktober auf dem Programm: kurze, lange, Spielfilme, Dokus, TV-Produktionen, Filme aus Deutschland, Italien, Frankreich, USA, Ghana, Großbritannien, Neuseeland... – genau die bunte Mischung, für die die Hofer Filmtage unter anderem berühmt sind. Berühmt sind die Hofer Filmtage aber vor allem dafür, dass sie Qualität zu bieten haben, auch wenn es heuer nicht gar so viele mitreißende Dinge zu sehen gab wie sonst schon mal. Das außerdem leider – im Gegensatz zu den letzten drei Jahren – unter ebenfalls berühmt trübem Himmel.

 

Eröffnung

 

Dabei ging es so schön los. Eröffnungsfilm der 41. Hofer Filmtage war Mondkalb von Sylke Enders. Dass von dieser Regisseurin (u.a. Silber beim Deutschen Filmpreis 2004) ein Qualitätsfilm zu erwarten war, war ungefähr klar. Und dass die Story von Mondkalb ungewöhnlich und spannend sein würde, konnte man im Programmbuch nachlesen. Dass dieser Film dann aber so sehr in die Herzen geht, war nicht unbedingt zu erwarten.

Alexandra (Juliane Köhler) wird aus dem Gefängnis entlassen und flüchtet in die Idylle ihrer Kindheit, ein Dorf in Brandenburg, wo sie in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter einzieht. Sie will sich von der Welt abschotten, trifft dann aber auf den zwölfjährigen Tom (sensationell: Leonard Carow) und dessen alleinerziehenden Vater Piet (Axel Prahl). Die drei freunden sich miteinander an, was aber nicht ganz ohne Probleme abgeht, weil sie alle in ihrer je eigenen Geschichte gefangen sind und »nicht aus ihrer Haut können«, wie es Alex einmal sagt.

Regisseurin Enders lässt sich viel Zeit, die Dramatik dieser Geschichte zu entwickeln. Kann sie sich auch leisten, denn das Buch – ebenfalls Enders – ist bei aller Tragik, in die die Hauptfiguren verstrickt sind, sehr humorvoll und manche Dialoge höchst witzig, was besonders Axel Prahl (vor allem als Tatort-Kommissar bekannt) gut zu nutzen weiß. Der allerdings auch in seinen gefühlvollen Szenen aufdreht, dass es eine Pracht ist.

Der wahre Glücksgriff bei der Besetzung der Rollen ist jedoch der junge Leonard Carow. Nicht lange fragen, warum: Selber anschaun, und zwar voraussichtlich ab Februar. Z.B. auch von der Kameraführung (Frank Amann) kann hier jetzt nicht groß erzählt werden, das sollte man gesehen haben.

 

Entdeckungen

 

Der kleine Leonard Carow ist damit wohl schon mal die erste »Entdeckung« dieses Hofer Jahrs gewesen. Hannah Herzsprung, entdeckungsmäßig im vergangenen Jahr die große Abräumerin und als Darstellerin seinerzeit mit gleich zwei Filmen dabeigewesen, tauchte dies Jahr nicht noch mal auf. Dafür aber Chris Kraus, noch so eine Entdeckung des letzten Jahres, als Regisseur von Vier Minuten, in dem Hannah Herzsprung an der Seite von Monica Bleibtreu spielte. Kraus kam diesmal zwar mit was ganz anderem, nämlich einem Bella Block-Krimi fürs ZDF. Der ist aber auch was Besonderes.

Reise nach China heißt der Film, zu dem Chris Kraus – wie es seine Gewohnheit zu sein scheint – auch selbst das Drehbuch schrieb. Ein Tierversuchslabor einer großen Pharmafirma fliegt in die Luft, und mit ihm die Genforscherin Josephine Merkur. Bella Block fängt an zu ermitteln, doch man will ihr den Fall wegnehmen: Das sei ja wohl ein Terroranschlag, also sei das BKA zuständig. Findet jedenfalls der etwas zwielichtige und leicht schmierige BKA-Beamte Köbus (Peter Davor), der die Ermittlungen an sich reißen will. Zwischen Kompetenzgerangel, militantem Tierschutz und internationalen Firmenverflechtungen, die bis nach China reichen und bei denen offenbar auch viel Korruption im Spiel ist, laviert sich Bella zusammen mit ihrem Adlatus Martensen (Devid Striesow) durch und – na ja, klar: löst den Fall mit Bravour.

Diese Bella Block-Folge dürfte zu den besten zählen, die bisher in dieser Reihe zu sehen waren. Autor Kraus reizt die charmant-abstoßenden Charakterzüge dieser Kodderschnauze bis an ihre Grenzen aus und legt ihr Sprüche in den Mund, die an Bissigkeit, Zynismus, Witz und Schlagfertigkeit nun wirklich gar nichts zu wünschen übrig lassen. An dieser Stelle zeigt sich dann auch wieder, was für ein Geniestreich es vor Jahren war, diese Rolle mit Hannelore Hoger zu besetzen. Jedes Fältchen ihres Gesichts arbeitet mit, wenn der Zorn in »Bella« rumort, ihre Augen werden zu Flammenwerfern, wenn sie wieder einen, der ihr dumm kommt, mit trockenem Spott belegt... Die Hoger muss beim Drehen einen mordsmäßigen Spaß gehabt haben, denn sie kann hier so richtig vom Leder ziehen. Mindestens so viel davon hatte das Publikum beim Anschaun des Films.

Leider war Hannelore Hoger selbst nicht in Hof, als der Film vorgestellt wurde. Dafür aber (natürlich) Chris Kraus und mit ihm Annette Focks, die für den Film die Musik komponiert hat. Ein seltenes Glück, dass man die endlich auch mal sehen durfte! Oder überhaupt mal einen Filmkomponisten bzw. eine Komponistin, denn die halten sich wohl gern im Hintergrund. So war Focks denn z.B. vergangenes Jahr nicht in Hof, als Vier Minuten vorgestellt wurde, für den sie die Originalmusik gemacht hatte. Damals bekam sie trotzdem einen Extraapplaus, als ihr Name bei der Vorstellung des Teams fiel. Diesmal konnte sie sich die Anerkennung des Publikums direkt abholen.

Kaum zu glauben, dass in so einer zierlichen Person derart voluminöse und große Töne stecken!

 

Praunheim

 

Ein weiteres besonderes Highlight der diesjährigen Hoftage (denen es an echten Highlights leider insgesamt etwas mangelte) war der Auftritt von Rosa von Praunheim, der mit zwei Dokumentarfilmen dabei war.

Der erste, Mit Olga auf der Wolga, zeigt eine Flusskreuzfahrt durch Russland. Und zwar anhand von vier Protagonisten, deren Erlebnisse eingefangen werden. Dabei sind sie alle vier schon ein Erlebnis für sich und zeigen sich der Kamera geradezu ungeschminkt – es scheint als wäre denen ja wohl gar nichts peinlich. Allen voran die exzentrische, wenn nicht gar exaltierte Ellen Reichardt, die Praunheim dann auch gleich für einen weiteren Film verpflichtete – seinen Spielfilm Sechs tote Studenten, in dem er seine Zeit als Professor an der Filmhochschule Potsdam Babelsberg satirisch aufs Korn nimmt. (Der Film hatte am 29. November seine Uraufführung, war also leider nicht mit in Hof.)

Als Fazit bleibt von diesem herrlich komischen Film wohl zu sagen: Man muss nicht durchgeknallt sein, um so eine Rentnerreise zu machen, aber es hilft offenbar. Zumindest eine nervig scheinende (am Ende dann halt doch charmante, wie Praunheim hier so liebe- wie eindrucksvoll zeigt) Macke sollte man mitbringen, dann klappts auch mit der Kamera.

Ganz anders kam die zweite Hofer Praunheim-Uraufführung daher. Meine Mütter – Spurensuche in Riga erzählt Praunheims persönliche Geschichte. Eine Geschichte nämlich, von der er selbst erst im Jahr 2000 erfuhr, als seine damals 94-jährige Mutter ihm, dem damals schon fast 60-Jährigen offenbarte, dass sie gar nicht seine Mutter ist. Sie hatte ihn während der deutschen Besatzung Rigas, seines Geburtsortes, in einem Kinderheim gefunden, sagte sie. Mehr sagte sie ihm nicht.

Den Rest musste er dann selbst, zum Teil recht aufwendig, recherchieren. Wobei er viele erstaunliche Dinge herausbekam und am Ende sogar seine echte Geburtsurkunde in Berlin fand: Holger Mischwitzky war so lange er denken konnte sein »bürgerlicher Name«. Jetzt weiß er, dass der in Wirklichkeit Holger Radtke lautet. Und dass er 1942 im Gefängnis auf die Welt kam.

Als wäre Rosa von Praunheim nicht ohnehin schon als hinreichend schillernde Gestalt, Paradiesvogel, Provokateur allseits bekannt, setzt er mit diesem Film noch einen drauf – so sehr, dass hie und da jemand vor der Aufführung annahm, dass die Ankündigung im Programmkatalog doch sicher eine Finte sein müsste, mit der er »nur wieder« provozieren wolle. Aber nein, es ist offenbar alles wahr, und Meine Mütter ein wirklich mehr als erstaunliches Werk über einen ohnehin schon erstaunlichen Mann.

 

Mehr so durchwachsen

 

Es ist bei rund hundert Filmen natürlich schwer, ein allgemeines Resümee zu ziehen. Dennoch ist es wohl nicht zuviel behauptet, wenn man sagt, dass die diesjährige Ausbeute an wirklich guten Filmen mehr so mau war. In etwa alles recht nett anzusehen, natürlich, denn Festivalleiter Heinz Badewitz ist selbstverständlich darauf bedacht, seinem Publikum möglichst das beste zu bieten, das er bieten kann. Und wenn dann aber das Material nicht immer danach ist, kann er auch nichts machen, sondern muss halt nehmen, was er hat. Und das war aufs Ganze gesehen denn doch mehr solides Handwerk als herausragende Arbeit.

 

Ein wirklicher Lichtblick war dabei aber der erste große Spielfilm von Florian Mischa Böder, Nichts geht mehr: Die Brüder August und Konstantin treiben das Spaßrevoluzzertum auf neue Höhen und malen in Bochum die Lämpchen von vielen-vielen Ampeln an und erzeugen damit am nächsten Morgen ein riesiges Verkehrschaos. Aus diesem Spaß wird schnell Ernst, als ihnen klar wird, dass das nicht einfach »grober Unfug« ist, sondern – grade in heutigen Zeiten – als Terrorakt ausgelegt werden kann. Und natürlich auch wird. Auf der Flucht vor den Behörden, ausgerechnet nach Hannover, geraten sie in dortige linksrevoluzzernde Kreise, und die Situation gleitet ihnen immer mehr aus der Hand.

An diesem Film ist schon die Grundidee mit den zugemalten Ampeln so wunderschön absurd, dass sich weiterer Kommentar nahezu erübrigt: Der Film kann nur witzig sein. Ist er auch. Aber nur witzig und streckenweise so grotesk, wie es nur das »wirkliche Leben« sein kann, reichte den Autoren (neben Böder: Alexander Pellucci und an der Kamera: Ergun Cankaya) nicht, und darum hat der Film außerdem eine nicht zu verachtende tragische Komponente. Ausgesprochen sehenswert.

 

Eher in der durchschnittlichen Kategorie bewegt sich dagegen Freischwimmer von Andreas Kleinert. Und das trotz einer Geschichte, die eigentlich fesselnd sein könnte.

Der Teenager Rico Bartsch (Frederick Lau) ist schwerhörig. Unter anderem deshalb ist er auch ein Einzelgänger, hat kaum mal Erfolge bei Mädchen oder beim Sport. Robert dagegen ist überall der große, strahlende Held – stirbt aber eines Tages nach dem Schulschwimmen an einem vergifteten »Liebesknochen«, einem Puddinggebäck. Dieses Stück Kuchen war jedoch eigentlich für Rico gedacht, wie sich herausstellt, und damit steht Rico dann doch einmal im Mittelpunkt des Geschehens.

Er sucht in dieser bedrohlichen Situation Halt bei seinem Deutschlehrer Wegner (August Diehl), der seinerseits ebenfalls eher eine Außenseitergestalt ist und sich quasi als Seelenverwandter Ricos ebenfalls von Lehrerkollegen und Schülern tyrannisiert fühlt. Die beiden hecken einen Plan aus, wie sie sich, wenn auch nur sozusagen ritualisiert, an ihren Peinigern »rächen« können.

Damit hört es aber noch lange nicht auf, und genau das ist eines der Hauptprobleme dieses Films: Er ist mit Figuren, Schicksalen, Nebensträngen (Buch: Thomas Wendrich) viel zu vollgepackt, als dass er wirklich gelingen könnte. Was schade ist, denn die Leistungen der Schauspieler und Schauspielerinnen sind ziemlich durchweg sehr gut und ambitioniert.

 

Ebenfalls sehr ambitioniert, allerdings ebenfalls knapp am Ziel vorbei, ist Das Herz ist ein dunkler Wald von Nicolette Krebitz. Krebitz, die auch das Buch zu diesem Film geschrieben hat, nimmt sich hier der antiken Medea-Sage an und versucht, sie in unsere Zeit zu versetzen.

Marie (sehr gefühlvoll dargestellt von Nina Hoss) ist mit Thomas (Devid Striesow, der hier neben seiner Rolle bei Bella Block seinen zweiten Auftritt in Hof hatte) verheiratet, sie haben zwei Kinder. Thomas geht weiter seinem Beruf als Orchestermusiker nach, während Marie, selbst auch Musikerin, ihre Karriere für die Familie aufgegeben hat.

Eines der Kinder tauscht eines Tages Thomas’ Geige im Geigenkoffer gegen ein Spielzeug aus, so dass Thomas ohne Instrument zur Probe radelt. Marie merkt das und fährt ihm hinterher, um ihm sein Instrument zu bringen. Dabei stellt sie fest, dass Thomas außer ihr noch eine andere Frau hat, außer ihrer noch eine weitere Familie mit Kindern, mit denen er trautes Heim lebt. Tief verletzt - wie auch sonst, in dieser Situation? - nimmt sie furchtbare Rache.

Wieder eine wunderbare Idee für eine Geschichte, wieder ausgesprochen gut gespielt, streckenweise auch fantasievoll inszeniert – aber insgesamt doch etwas zu leblos.

 

Nahezu tot dagegen ist dann schon das Ost-Drama Zeit der Fische von Heiko Aufdermauer. Sein Protagonist heißt Robert (gespielt von Janusz Kocaj), ist 19 Jahre alt und lebt in Halle-Neustadt, einem Randgebiet von Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt. Ostdeutscher kann der Schrecken des tristen Ostens vor lauter Plattenbau kaum sein, und genauso trist sieht es in den Seelen der Menschen aus, die hier leben müssen.

Und damit ist dann auch wirklich alles gesagt; denn es wimmelt in diesem Film von absehbaren »Konflikten«, der sattsam bekannten »Ausweglosigkeit« einer Jugend in Arbeitslosigkeit und Betonschluchten, notfalls auch der »Ungerechtigkeit« der Ost-West-Balance in einem Deutschland, bei dem noch lange nicht alles wieder zusammengewachsen ist.

So schlimm das alles sein mag, reicht es halt doch nicht aus, statt einer wirklichen Geschichte (wie immer die ausgehen mag!) und glaubwürdigen Charakteren ein Sammelsurium von Klischees zu bieten, um daraus einen Film zu machen.

 

Unter anderem aufgrund des trüben Wetters war es mit dem Promiskucken in diesem Jahr nicht allzu weit her, jedenfalls auf den Straßen und in den Cafés machten sie sich eher rar. Trotzdem waren sie aber ja da, unter ihnen auch Dominik Graf, der mit Das Gelübde im Programm war.

Graf erzählt hier (Grafs Koautor beim Drehbuch nach dem gleichnamigen Roman von Kai Meyer: Markus Busch) eine Episode aus dem Leben des Dichters Clemens von Brentano. Anfang des 19. Jahrhunderts machte im Münsterland eine wundertätige Nonne von sich reden, Anna Katharina von Emmerich, an deren Körper sich die Wundmale Christi zeigten.

Brentanos Aufgabe ist es nun, als »Schreiber der Wunder Gottes« das Leben Annas, ihre Visionen und Ansichten niederzuschreiben.

Das klingt nicht sonderlich dramatisch. Und ist es auch nicht unbedingt. Diese Geschichte lebt von den außergewöhnlichen Charakteren der Nonne und des Schriftstellers. Und der Film von der Darstellung dieser Figuren durch Tanja Schleiff und Mišel Matičević. Die ihre Sache jederzeit glanzvoll machen.

Die Bilder (Kamera: Michael Wiesweg) sind für eine Fernsehproduktion (WDR/arte) zudem ungewöhnlich opulent und über einige Strecken recht detailreich, so dass sie auf so manchem Heim-Bildschirm wahrscheinlich (und leider) etwas untergehen werden. Die liebevolle aber dennoch skeptische Haltung, mit der Regisseur Graf den religiös aufgeladenen Stoff inszeniert, wird sich aber wohl trotzdem gut übertragen. Auch wenn dieser Film, »bildungsgutverdächtig« wie er ist, wohl nur ein kleineres Publium finden wird und vor allem im katholischen Religionsunterricht überleben dürfte.

 

Kurzfilme

 

Schöne Überraschungen gab es bei diesen Filmtagen in der Sparte Kurzfilm. Da war zum Beispiel Tohuwabohu von Maria Eibl-Eibesfeld (genau: seine Enkelin): Der kleine Tim wird von seinen Eltern übers Wochenende bei seinem Großvater abgeladen, wo er sich zunächst überhaupt nicht wohlfühlt. Dieser Opa ist nämlich ein verhältnismäßig skurriler Vogel, der den kleinen Jungen immer wieder mit ironischen Spielchen traktiert und erschreckt. Nach und nach kommt Tim dieser Masche aber auf die Spur und lernt, sie zu entschlüsseln. Eine neue Fähigkeit, die ihm am Ende dabei hilft, Opas allerletzten morbiden Scherz – der nämlich keiner ist – zu verkraften.

Noch eine Entdeckung dieser an Entdeckungen etwas armen Filmtage: der kleine Tim Wallum in der Rolle des Enkels. Aber der Film ist auch »als Ganzes« sehr gelungen. Behutsam und humorvoll inszeniert, von dieser Frau ist sicher (hoffentlich) noch viel zu erwarten.

 

Noch ein Glanzstück aus der Hand eines jungen Regisseurs: Der Baum von Jan Martin Scharf. Ein Teenager sitzt auf einem Baum und will da überhaupt nicht runter, sondern nur von dort aus in die Gegend schauen. Dumm nur, dass dieser Baum mitten auf einem Golfplatz steht. Die Mitglieder des Golfklubs finden, dass der Junge da weg muss, und versuchen mit verschiedenen Mitteln, ihn loszuwerden.

Angereichert mit bekannten Schauspielern wie Andrea Sawatzki und Jannis Niewöhner (in der Rolle des Baumsitzers) erscheint dieser Zehnminüter in seiner leisen Poesie nahezu surrealistisch, dabei aber nicht weniger lustig. Ein Lob der Muße, wenn nicht gar Faulheit gegen eine Welt, die nur in Profitkategorien und Marketingsprech denken kann. Ausgesprochen hübsch!

 

Nicht weniger ans Surrealistische kratzend kann man sich Der Blaue Affe von Carsten Unger vorstellen. Erzählt wird eine Geschichte der letzten Nacht der »goldenen Zwanziger Jahre«. Im Varieté »Der Blaue Affe« tanzt das Publikum auf dem Vulkan, während der junge Maler Laurin (Matthias Schweighöfer) auf der Suche nach der wahren Schönheit ist. Er meint, sie in der Sängerin Marie (Esther Zimmering) gefunden zu haben und möchte das Mädchen malen. Sie sagt ihm zu, stellt ihn aber zunächst auf eine harte Probe.

Mit seinen 43 Minuten ist Der Blaue Affe (Buch ebenfalls von Carsten Unger) vielleicht nicht im strengen Sinne »kurz«, kürzer dürfte er aber auch nicht sein, um seine ganze Pracht und Fülle zu entfalten. Fast mehr ein Gemälde als ein Film bietet der aufwendig ausgestattete Streifen ein höchst gelungenes Spiel mit Farben, Formen und Charakteren, politischen Anspielungen und dem Leben am Rande des wirtschaftlichen und daher menschlichen Abgrunds.

 

Retrospektive

 

Die »Werkschau« (oder »Retrospektive«) war dies Jahr dem Regisseur Wayne Wang gewidmet. Der aus Hongkong stammende Regisseur, der seit rund 30 Jahren in Kalifornien lebt, brachte acht Filme aus seinem bisherigen Schaffen mit nach Hof. Es ist nicht verwunderlich, dass eins seiner Hauptthemen das Leben der Immigranten ist.

Da wäre zum Beispiel Dim Sum – A Little Bit of Heart aus dem Jahr 1985: Die Witwe Mrs. Tam (Kim Chew) lebt mit ihrer schon in den USA geborenen dreißigjährigen Tochter Geraldine (Laureen Chew) in der Chinatown von San Francisco. Mrs. Tam hat zwei dringende Wünsche: Sie möchte vor ihrem Tod, der nach der Aussage eines Wahrsagers nicht mehr fern ist, noch einmal »nach Hause« nach China fahren. Zweitens möge Geraldine doch bitte endlich einen Mann finden und heiraten.

Geraldine ihrerseits denkt gar nicht daran zu heiraten und schiebt ihre Mutter, um die sie sich ja kümmern müsste, als Grund dafür vor. Sie möchte ein von Männern unabhängiges Leben leben.

In dieser anrührenden Komödie (Buch: Terrel Seltzer) spielt die schleichende Erosion der eigenen Tradition und Geschichte eine geheime Hauptrolle. So sehr Mrs. Tam sich wünscht, ihre alte Heimat noch einmal zu besuchen – der Zuschauer weiß, dass sie dort nicht mehr zurecht käme, so sehr ist sie Amerikanerin geworden, auch wenn sie in Chinatown unter Landsleuten lebt und so gut wie nur chinesisch spricht.

 

Eine echte Besonderheit in der langen Riege von Wangs bisheriger Arbeit sind gegenüber den Immigrantenfilmen allerdings die Filme Smoke und Blue in the Face, die man sich am besten direkt nacheinander ansieht, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte, diese beiden Filme aus dem Jahr 1994 einmal zu sehen.

In Smoke spielt Harvey Keitel den Auggie, einen Verkäufer in einem Tabakladen in Brooklyn. Seit 14 Jahren macht er jeden Morgen um Punkt acht ein Foto von diesem Laden, immer von derselben Stelle aus. Auf diese Weise sind mittlerweile Tausende Bilder von immer Demselben entstanden, die jedoch trotzdem immer anders aussehen. Der Schriftsteller Paul Benjamin (William Hurt) ist Stammkunde bei Auggie und bekommt eines Tages diese Bilder zu sehen. Auf einem davon erkennt er seine Frau, genau an dem Tag aufgenommen, als sie nach dem Zigaretteneinkauf in eine Straßen-Schießerei geriet, bei der sie getötet wurde. Und dann gibts da noch Rashid, der seinen Vater sucht, und...

Alles halbwegs tragisch verstrickte Figuren, die versuchen, mit ihrem Leben klarzukommen. Und das tun sie dann insgesamt ausgesprochen komisch.

Smoke entstand nach einer Kurzgeschichte von Paul Auster, der auch das Drehbuch zu dieser (Tragi-)Komödie schrieb. Aus irgendwelchen Gründen war man mit den Dreharbeiten zu diesem Film früher fertig als geplant. Die Crew hatte außerdem so viel Spaß an der gemeinsamen Arbeit an diesem Film (den man dem Film anmerkt!), dass man sich entschloss, direkt ein »Sequel« zu drehen, nämlich Blue in the Face.

Viele der Mitarbeiter von Smoke blieben dabei, allen voran Keitel, und man lud zu diesem Fun-Film weitere Freunde ein: Michael J. Fox, Roseanne Barr, Madonna, Jim Jarmusch, Lou Reed... Ein Drehbuch gab es nicht, nur lose Rollenbeschreibungen, der Rest wurde improvisiert. Herausgekommen ist dabei nicht nur ein grandios komischer Film, sondern auch eine sehr außergewöhnliche Liebeserklärung an den New Yorker Stadtteil Brooklyn.

 

Die Einladung Wayne Wangs für die »Retrospektive« sah zunächst wie eine Notlösung aus: Ursprünglich hatte Heinz Badewitz nämlich eine Regisseurin eingeladen, deren Name in den Vorabveröffentlichungen nicht genannt wurde, und die kurz vor den Filmtagen schwer krank wurde, so dass sie nicht kommen konnte.

Wer immer diese Dame sein mag, es stellte sich dann als großer Glücksfall für die Filmtage heraus, dass Wayne Wang geradezu begeistert zusagte – er ließ dafür sogar einen Festivaltermin in den USA sausen.

Nicht zuletzt wegen der acht Filme, die Wang im Gepäck hatte, kann man die 41. Hofer Filmtage doch wieder als einen Erfolg bezeichnen.