Impressionen von Harald Manninga
Manche halten die Hofer Filmtage für das nach der
Berlinale wichtigste Filmfestival in Deutschland. Andere möchten daraus einen
Dreiklang machen und zählen das Filmfest München in diese Riege. Doch darüber
mögen sich die weiter streiten, denn in Hof geht es nicht um Prestige, Preise
und Promis kucken (obwohl man auch davon reichlich erleben kann), sondern
zuerst und vor allem um den Film. Dicht gefolgt von Brodwärschd und Fußball.
Rund hundert Filme standen vom 23. bis zum 28.
Oktober auf dem Programm: kurze, lange, Spielfilme, Dokus, TV-Produktionen,
Filme aus Deutschland, Italien, Frankreich, USA, Ghana, Großbritannien,
Neuseeland... genau die bunte Mischung, für die die Hofer Filmtage unter
anderem berühmt sind. Berühmt sind die Hofer Filmtage aber vor allem dafür,
dass sie Qualität zu bieten haben, auch wenn es heuer nicht gar so viele
mitreißende Dinge zu sehen gab wie sonst schon mal. Das außerdem leider im
Gegensatz zu den letzten drei Jahren unter ebenfalls berühmt trübem Himmel.
Eröffnung
Dabei ging es so schön los. Eröffnungsfilm der
41. Hofer Filmtage war Mondkalb von Sylke Enders. Dass von dieser
Regisseurin (u.a. Silber beim Deutschen Filmpreis 2004) ein Qualitätsfilm zu
erwarten war, war ungefähr klar. Und dass die Story von Mondkalb
ungewöhnlich und spannend sein würde, konnte man im Programmbuch nachlesen.
Dass dieser Film dann aber so sehr in die Herzen geht, war nicht
unbedingt zu erwarten.
Alexandra (Juliane Köhler) wird aus dem
Gefängnis entlassen und flüchtet in die Idylle ihrer Kindheit, ein Dorf in
Brandenburg, wo sie in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter einzieht. Sie
will sich von der Welt abschotten, trifft dann aber auf den zwölfjährigen Tom
(sensationell: Leonard Carow) und dessen alleinerziehenden Vater Piet (Axel
Prahl). Die drei freunden sich miteinander an, was aber nicht ganz ohne
Probleme abgeht, weil sie alle in ihrer je eigenen Geschichte gefangen sind und
»nicht aus ihrer Haut können«, wie es Alex einmal sagt.
Regisseurin Enders lässt sich viel Zeit, die
Dramatik dieser Geschichte zu entwickeln. Kann sie sich auch leisten, denn das
Buch ebenfalls Enders ist bei aller Tragik, in die die Hauptfiguren
verstrickt sind, sehr humorvoll und manche Dialoge höchst witzig, was besonders
Axel Prahl (vor allem als Tatort-Kommissar bekannt) gut zu nutzen weiß.
Der allerdings auch in seinen gefühlvollen Szenen aufdreht, dass es eine Pracht
ist.
Der wahre Glücksgriff bei der Besetzung der
Rollen ist jedoch der junge Leonard Carow. Nicht lange fragen, warum: Selber
anschaun, und zwar voraussichtlich ab Februar. Z.B. auch von der Kameraführung
(Frank Amann) kann hier jetzt nicht groß erzählt werden, das sollte man gesehen
haben.
Entdeckungen
Der kleine Leonard Carow ist damit wohl schon
mal die erste »Entdeckung« dieses Hofer Jahrs gewesen. Hannah Herzsprung,
entdeckungsmäßig im vergangenen Jahr die große Abräumerin und als Darstellerin
seinerzeit mit gleich zwei Filmen dabeigewesen, tauchte dies Jahr nicht noch
mal auf. Dafür aber Chris Kraus, noch so eine Entdeckung des letzten Jahres,
als Regisseur von Vier Minuten, in dem Hannah Herzsprung an der Seite
von Monica Bleibtreu spielte. Kraus kam diesmal zwar mit was ganz anderem, nämlich
einem Bella Block-Krimi fürs ZDF. Der ist aber auch was Besonderes.
Reise nach China heißt der Film, zu dem Chris Kraus wie es seine Gewohnheit zu sein scheint
auch selbst das Drehbuch schrieb. Ein Tierversuchslabor einer großen
Pharmafirma fliegt in die Luft, und mit ihm die Genforscherin Josephine Merkur.
Bella Block fängt an zu ermitteln, doch man will ihr den Fall wegnehmen: Das
sei ja wohl ein Terroranschlag, also sei das BKA zuständig. Findet jedenfalls
der etwas zwielichtige und leicht schmierige BKA-Beamte Köbus (Peter Davor),
der die Ermittlungen an sich reißen will. Zwischen Kompetenzgerangel,
militantem Tierschutz und internationalen Firmenverflechtungen, die bis nach
China reichen und bei denen offenbar auch viel Korruption im Spiel ist, laviert
sich Bella zusammen mit ihrem Adlatus Martensen (Devid Striesow) durch und na
ja, klar: löst den Fall mit Bravour.
Diese Bella Block-Folge dürfte zu den
besten zählen, die bisher in dieser Reihe zu sehen waren. Autor Kraus reizt die
charmant-abstoßenden Charakterzüge dieser Kodderschnauze bis an ihre Grenzen
aus und legt ihr Sprüche in den Mund, die an Bissigkeit, Zynismus, Witz und
Schlagfertigkeit nun wirklich gar nichts zu wünschen übrig lassen. An
dieser Stelle zeigt sich dann auch wieder, was für ein Geniestreich es vor
Jahren war, diese Rolle mit Hannelore Hoger zu besetzen. Jedes Fältchen ihres
Gesichts arbeitet mit, wenn der Zorn in »Bella« rumort, ihre Augen werden zu
Flammenwerfern, wenn sie wieder einen, der ihr dumm kommt, mit trockenem Spott
belegt... Die Hoger muss beim Drehen einen mordsmäßigen Spaß gehabt haben, denn
sie kann hier so richtig vom Leder ziehen. Mindestens so viel davon hatte das
Publikum beim Anschaun des Films.
Leider war Hannelore Hoger selbst nicht in Hof,
als der Film vorgestellt wurde. Dafür aber (natürlich) Chris Kraus und mit ihm
Annette Focks, die für den Film die Musik komponiert hat. Ein seltenes Glück,
dass man die endlich auch mal sehen durfte! Oder überhaupt mal einen
Filmkomponisten bzw. eine Komponistin, denn die halten sich wohl gern im
Hintergrund. So war Focks denn z.B. vergangenes Jahr nicht in Hof, als Vier
Minuten vorgestellt wurde, für den sie die Originalmusik gemacht hatte.
Damals bekam sie trotzdem einen Extraapplaus, als ihr Name bei der Vorstellung
des Teams fiel. Diesmal konnte sie sich die Anerkennung des Publikums direkt
abholen.
Kaum zu glauben, dass in so einer zierlichen
Person derart voluminöse und große Töne stecken!
Praunheim
Ein weiteres besonderes Highlight der
diesjährigen Hoftage (denen es an echten Highlights leider insgesamt etwas
mangelte) war der Auftritt von Rosa von Praunheim, der mit zwei
Dokumentarfilmen dabei war.
Der erste, Mit Olga auf der Wolga, zeigt
eine Flusskreuzfahrt durch Russland. Und zwar anhand von vier Protagonisten,
deren Erlebnisse eingefangen werden. Dabei sind sie alle vier schon ein
Erlebnis für sich und zeigen sich der Kamera geradezu ungeschminkt es scheint
als wäre denen ja wohl gar nichts peinlich. Allen voran die
exzentrische, wenn nicht gar exaltierte Ellen Reichardt, die Praunheim dann
auch gleich für einen weiteren Film verpflichtete seinen Spielfilm Sechs
tote Studenten, in dem er seine Zeit als Professor an der Filmhochschule
Potsdam Babelsberg satirisch aufs Korn nimmt. (Der Film hatte am 29. November
seine Uraufführung, war also leider nicht mit in Hof.)
Als Fazit bleibt von diesem herrlich komischen
Film wohl zu sagen: Man muss nicht durchgeknallt sein, um so eine Rentnerreise
zu machen, aber es hilft offenbar. Zumindest eine nervig scheinende (am Ende
dann halt doch charmante, wie Praunheim hier so liebe- wie eindrucksvoll zeigt)
Macke sollte man mitbringen, dann klappts auch mit der Kamera.
Ganz anders kam die zweite Hofer
Praunheim-Uraufführung daher. Meine Mütter Spurensuche in Riga erzählt
Praunheims persönliche Geschichte. Eine Geschichte nämlich, von der er selbst
erst im Jahr 2000 erfuhr, als seine damals 94-jährige Mutter ihm, dem damals
schon fast 60-Jährigen offenbarte, dass sie gar nicht seine Mutter ist. Sie
hatte ihn während der deutschen Besatzung Rigas, seines Geburtsortes, in einem
Kinderheim gefunden, sagte sie. Mehr sagte sie ihm nicht.
Den Rest musste er dann selbst, zum Teil recht
aufwendig, recherchieren. Wobei er viele erstaunliche Dinge herausbekam und am
Ende sogar seine echte Geburtsurkunde in Berlin fand: Holger Mischwitzky war so
lange er denken konnte sein »bürgerlicher Name«. Jetzt weiß er, dass der in
Wirklichkeit Holger Radtke lautet. Und dass er 1942 im Gefängnis auf die Welt
kam.
Als wäre Rosa von Praunheim nicht ohnehin schon
als hinreichend schillernde Gestalt, Paradiesvogel, Provokateur allseits
bekannt, setzt er mit diesem Film noch einen drauf so sehr, dass hie und da
jemand vor der Aufführung annahm, dass die Ankündigung im Programmkatalog doch
sicher eine Finte sein müsste, mit der er »nur wieder« provozieren wolle. Aber
nein, es ist offenbar alles wahr, und Meine Mütter ein wirklich mehr als
erstaunliches Werk über einen ohnehin schon erstaunlichen Mann.
Mehr so durchwachsen
Es ist bei rund hundert Filmen natürlich schwer,
ein allgemeines Resümee zu ziehen. Dennoch ist es wohl nicht zuviel behauptet,
wenn man sagt, dass die diesjährige Ausbeute an wirklich guten Filmen mehr so
mau war. In etwa alles recht nett anzusehen, natürlich, denn Festivalleiter
Heinz Badewitz ist selbstverständlich darauf bedacht, seinem Publikum möglichst
das beste zu bieten, das er bieten kann. Und wenn dann aber das Material nicht
immer danach ist, kann er auch nichts machen, sondern muss halt nehmen, was er
hat. Und das war aufs Ganze gesehen denn doch mehr solides Handwerk als
herausragende Arbeit.
Ein wirklicher Lichtblick war dabei aber der
erste große Spielfilm von Florian Mischa Böder, Nichts geht mehr: Die
Brüder August und Konstantin treiben das Spaßrevoluzzertum auf neue Höhen und
malen in Bochum die Lämpchen von vielen-vielen Ampeln an und erzeugen damit am
nächsten Morgen ein riesiges Verkehrschaos. Aus diesem Spaß wird schnell Ernst,
als ihnen klar wird, dass das nicht einfach »grober Unfug« ist, sondern grade
in heutigen Zeiten als Terrorakt ausgelegt werden kann. Und natürlich auch
wird. Auf der Flucht vor den Behörden, ausgerechnet nach Hannover, geraten sie
in dortige linksrevoluzzernde Kreise, und die Situation gleitet ihnen immer
mehr aus der Hand.
An diesem Film ist schon die Grundidee mit den
zugemalten Ampeln so wunderschön absurd, dass sich weiterer Kommentar nahezu
erübrigt: Der Film kann nur witzig sein. Ist er auch. Aber nur
witzig und streckenweise so grotesk, wie es nur das »wirkliche Leben« sein kann,
reichte den Autoren (neben Böder: Alexander Pellucci und an der Kamera: Ergun Cankaya) nicht,
und darum hat der Film außerdem eine nicht zu verachtende tragische Komponente.
Ausgesprochen sehenswert.
Eher in der durchschnittlichen Kategorie bewegt
sich dagegen Freischwimmer von Andreas Kleinert. Und das trotz einer
Geschichte, die eigentlich fesselnd sein könnte.
Der Teenager Rico Bartsch (Frederick Lau) ist
schwerhörig. Unter anderem deshalb ist er auch ein Einzelgänger, hat kaum mal
Erfolge bei Mädchen oder beim Sport. Robert dagegen ist überall der große,
strahlende Held stirbt aber eines Tages nach dem Schulschwimmen an einem
vergifteten »Liebesknochen«, einem Puddinggebäck. Dieses Stück Kuchen war
jedoch eigentlich für Rico gedacht, wie sich herausstellt, und damit steht Rico
dann doch einmal im Mittelpunkt des Geschehens.
Er sucht in dieser bedrohlichen Situation Halt
bei seinem Deutschlehrer Wegner (August Diehl), der seinerseits ebenfalls eher
eine Außenseitergestalt ist und sich quasi als Seelenverwandter Ricos ebenfalls
von Lehrerkollegen und Schülern tyrannisiert fühlt. Die beiden hecken einen
Plan aus, wie sie sich, wenn auch nur sozusagen ritualisiert, an ihren
Peinigern »rächen« können.
Damit hört es aber noch lange nicht auf, und
genau das ist eines der Hauptprobleme dieses Films: Er ist mit Figuren,
Schicksalen, Nebensträngen (Buch: Thomas Wendrich) viel zu vollgepackt, als
dass er wirklich gelingen könnte. Was schade ist, denn die Leistungen der
Schauspieler und Schauspielerinnen sind ziemlich durchweg sehr gut und
ambitioniert.
Ebenfalls sehr ambitioniert, allerdings
ebenfalls knapp am Ziel vorbei, ist Das Herz ist ein dunkler Wald von
Nicolette Krebitz. Krebitz, die auch das Buch zu diesem Film geschrieben hat,
nimmt sich hier der antiken Medea-Sage an und versucht, sie in unsere Zeit zu
versetzen.
Marie (sehr gefühlvoll dargestellt von Nina
Hoss) ist mit Thomas (Devid Striesow, der hier neben seiner Rolle bei Bella
Block seinen zweiten Auftritt in Hof hatte) verheiratet, sie haben zwei
Kinder. Thomas geht weiter seinem Beruf als Orchestermusiker nach, während
Marie, selbst auch Musikerin, ihre Karriere für die Familie aufgegeben hat.
Eines der Kinder tauscht eines Tages Thomas
Geige im Geigenkoffer gegen ein Spielzeug aus, so dass Thomas ohne Instrument
zur Probe radelt. Marie merkt das und fährt ihm hinterher, um ihm sein
Instrument zu bringen. Dabei stellt sie fest, dass Thomas außer ihr noch eine
andere Frau hat, außer ihrer noch eine weitere Familie mit Kindern, mit denen
er trautes Heim lebt. Tief verletzt - wie auch sonst, in dieser Situation? - nimmt sie furchtbare Rache.
Wieder eine wunderbare Idee für eine Geschichte,
wieder ausgesprochen gut gespielt, streckenweise auch fantasievoll inszeniert
aber insgesamt doch etwas zu leblos.
Nahezu tot dagegen ist dann schon das Ost-Drama Zeit
der Fische von Heiko Aufdermauer. Sein Protagonist heißt Robert (gespielt
von Janusz Kocaj), ist 19 Jahre alt und lebt in Halle-Neustadt, einem
Randgebiet von Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt. Ostdeutscher kann der
Schrecken des tristen Ostens vor lauter Plattenbau kaum sein, und genauso trist
sieht es in den Seelen der Menschen aus, die hier leben müssen.
Und damit ist dann auch wirklich alles gesagt;
denn es wimmelt in diesem Film von absehbaren »Konflikten«, der sattsam
bekannten »Ausweglosigkeit« einer Jugend in Arbeitslosigkeit und Betonschluchten,
notfalls auch der »Ungerechtigkeit« der Ost-West-Balance in einem Deutschland,
bei dem noch lange nicht alles wieder zusammengewachsen ist.
So schlimm das alles sein mag, reicht es halt
doch nicht aus, statt einer wirklichen Geschichte (wie immer die ausgehen mag!)
und glaubwürdigen Charakteren ein Sammelsurium von Klischees zu bieten, um
daraus einen Film zu machen.
Unter anderem aufgrund des trüben Wetters war es
mit dem Promiskucken in diesem Jahr nicht allzu weit her, jedenfalls auf den Straßen
und in den Cafés machten sie sich eher rar. Trotzdem waren sie aber ja da,
unter ihnen auch Dominik Graf, der mit Das Gelübde im Programm war.
Graf erzählt hier (Grafs Koautor beim Drehbuch
nach dem gleichnamigen Roman von Kai Meyer: Markus Busch) eine Episode aus dem
Leben des Dichters Clemens von Brentano. Anfang des 19. Jahrhunderts machte im
Münsterland eine wundertätige Nonne von sich reden, Anna Katharina von
Emmerich, an deren Körper sich die Wundmale Christi zeigten.
Brentanos Aufgabe ist es nun, als »Schreiber der
Wunder Gottes« das Leben Annas, ihre Visionen und Ansichten niederzuschreiben.
Das klingt nicht sonderlich dramatisch. Und ist
es auch nicht unbedingt. Diese Geschichte lebt von den außergewöhnlichen
Charakteren der Nonne und des Schriftstellers. Und der Film von der Darstellung
dieser Figuren durch Tanja Schleiff und Miel Matičević. Die ihre Sache
jederzeit glanzvoll machen.
Die Bilder (Kamera: Michael Wiesweg) sind für
eine Fernsehproduktion (WDR/arte) zudem ungewöhnlich opulent und über einige
Strecken recht detailreich, so dass sie auf so manchem Heim-Bildschirm
wahrscheinlich (und leider) etwas untergehen werden. Die liebevolle aber
dennoch skeptische Haltung, mit der Regisseur Graf den religiös aufgeladenen
Stoff inszeniert, wird sich aber wohl trotzdem gut übertragen. Auch wenn dieser Film, »bildungsgutverdächtig« wie er ist, wohl nur ein kleineres Publium finden wird und vor allem im katholischen Religionsunterricht überleben dürfte.
Kurzfilme
Schöne Überraschungen gab es bei diesen Filmtagen
in der Sparte Kurzfilm. Da war zum Beispiel Tohuwabohu von Maria
Eibl-Eibesfeld (genau: seine Enkelin): Der kleine Tim wird von seinen
Eltern übers Wochenende bei seinem Großvater abgeladen, wo er sich zunächst
überhaupt nicht wohlfühlt. Dieser Opa ist nämlich ein verhältnismäßig skurriler
Vogel, der den kleinen Jungen immer wieder mit ironischen Spielchen traktiert
und erschreckt. Nach und nach kommt Tim dieser Masche aber auf die Spur und
lernt, sie zu entschlüsseln. Eine neue Fähigkeit, die ihm am Ende dabei hilft,
Opas allerletzten morbiden Scherz der nämlich keiner ist zu verkraften.
Noch eine Entdeckung dieser an Entdeckungen etwas armen
Filmtage: der kleine Tim Wallum in der Rolle des Enkels. Aber der Film ist auch
»als Ganzes« sehr gelungen. Behutsam und humorvoll inszeniert, von dieser Frau
ist sicher (hoffentlich) noch viel zu erwarten.
Noch ein Glanzstück aus der Hand eines jungen
Regisseurs: Der Baum von Jan Martin Scharf. Ein Teenager sitzt auf einem
Baum und will da überhaupt nicht runter, sondern nur von dort aus in die Gegend
schauen. Dumm nur, dass dieser Baum mitten auf einem Golfplatz steht. Die
Mitglieder des Golfklubs finden, dass der Junge da weg muss, und versuchen mit
verschiedenen Mitteln, ihn loszuwerden.
Angereichert mit bekannten Schauspielern wie
Andrea Sawatzki und Jannis Niewöhner (in der Rolle des Baumsitzers) erscheint
dieser Zehnminüter in seiner leisen Poesie nahezu surrealistisch, dabei aber
nicht weniger lustig. Ein Lob der Muße, wenn nicht gar Faulheit gegen eine
Welt, die nur in Profitkategorien und Marketingsprech denken kann.
Ausgesprochen hübsch!
Nicht weniger ans Surrealistische kratzend kann
man sich Der Blaue Affe von Carsten Unger vorstellen. Erzählt wird eine
Geschichte der letzten Nacht der »goldenen Zwanziger Jahre«. Im Varieté »Der
Blaue Affe« tanzt das Publikum auf dem Vulkan, während der junge Maler Laurin
(Matthias Schweighöfer) auf der Suche nach der wahren Schönheit ist. Er meint,
sie in der Sängerin Marie (Esther Zimmering) gefunden zu haben und möchte das
Mädchen malen. Sie sagt ihm zu, stellt ihn aber zunächst auf eine harte Probe.
Mit seinen 43 Minuten ist Der Blaue Affe
(Buch ebenfalls von Carsten Unger) vielleicht nicht im strengen Sinne »kurz«,
kürzer dürfte er aber auch nicht sein, um seine ganze Pracht und Fülle zu
entfalten. Fast mehr ein Gemälde als ein Film bietet der aufwendig
ausgestattete Streifen ein höchst gelungenes Spiel mit Farben, Formen und
Charakteren, politischen Anspielungen und dem Leben am Rande des
wirtschaftlichen und daher menschlichen Abgrunds.
Retrospektive
Die »Werkschau« (oder »Retrospektive«) war dies
Jahr dem Regisseur Wayne Wang gewidmet. Der aus Hongkong stammende Regisseur,
der seit rund 30 Jahren in Kalifornien lebt, brachte acht Filme aus seinem
bisherigen Schaffen mit nach Hof. Es ist nicht verwunderlich, dass eins seiner
Hauptthemen das Leben der Immigranten ist.
Da wäre zum Beispiel Dim Sum A Little Bit
of Heart aus dem Jahr 1985: Die Witwe Mrs. Tam (Kim Chew) lebt mit ihrer
schon in den USA geborenen dreißigjährigen Tochter Geraldine (Laureen Chew) in
der Chinatown von San Francisco. Mrs. Tam hat zwei dringende Wünsche: Sie
möchte vor ihrem Tod, der nach der Aussage eines Wahrsagers nicht mehr fern
ist, noch einmal »nach Hause« nach China fahren. Zweitens möge Geraldine doch
bitte endlich einen Mann finden und heiraten.
Geraldine ihrerseits denkt gar nicht daran zu
heiraten und schiebt ihre Mutter, um die sie sich ja kümmern müsste, als Grund
dafür vor. Sie möchte ein von Männern unabhängiges Leben leben.
In dieser anrührenden Komödie (Buch: Terrel Seltzer)
spielt die schleichende Erosion der eigenen Tradition und Geschichte eine
geheime Hauptrolle. So sehr Mrs. Tam sich wünscht, ihre alte Heimat noch einmal
zu besuchen der Zuschauer weiß, dass sie dort nicht mehr zurecht käme, so
sehr ist sie Amerikanerin geworden, auch wenn sie in Chinatown unter
Landsleuten lebt und so gut wie nur chinesisch spricht.
Eine echte Besonderheit in der langen Riege von
Wangs bisheriger Arbeit sind gegenüber den Immigrantenfilmen allerdings die
Filme Smoke und Blue in the Face, die man sich am besten direkt
nacheinander ansieht, wenn sich die Gelegenheit ergeben sollte, diese beiden
Filme aus dem Jahr 1994 einmal zu sehen.
In Smoke spielt Harvey Keitel den Auggie,
einen Verkäufer in einem Tabakladen in Brooklyn. Seit 14 Jahren macht er jeden
Morgen um Punkt acht ein Foto von diesem Laden, immer von derselben Stelle aus.
Auf diese Weise sind mittlerweile Tausende Bilder von immer Demselben
entstanden, die jedoch trotzdem immer anders aussehen. Der Schriftsteller Paul
Benjamin (William Hurt) ist Stammkunde bei Auggie und bekommt eines Tages diese
Bilder zu sehen. Auf einem davon erkennt er seine Frau, genau an dem Tag
aufgenommen, als sie nach dem Zigaretteneinkauf in eine Straßen-Schießerei geriet, bei
der sie getötet wurde. Und dann gibts da noch Rashid, der seinen Vater sucht,
und...
Alles halbwegs tragisch verstrickte Figuren, die
versuchen, mit ihrem Leben klarzukommen. Und das tun sie dann insgesamt
ausgesprochen komisch.
Smoke entstand nach einer
Kurzgeschichte von Paul Auster, der auch das Drehbuch zu dieser (Tragi-)Komödie
schrieb. Aus irgendwelchen Gründen war man mit den Dreharbeiten zu diesem Film
früher fertig als geplant. Die Crew hatte außerdem so viel Spaß an der gemeinsamen
Arbeit an diesem Film (den man dem Film anmerkt!), dass man sich entschloss,
direkt ein »Sequel« zu drehen, nämlich Blue in the Face.
Viele der Mitarbeiter von Smoke blieben
dabei, allen voran Keitel, und man lud zu diesem Fun-Film weitere Freunde ein:
Michael J. Fox, Roseanne Barr, Madonna, Jim Jarmusch, Lou Reed... Ein Drehbuch
gab es nicht, nur lose Rollenbeschreibungen, der Rest wurde improvisiert.
Herausgekommen ist dabei nicht nur ein grandios komischer Film, sondern auch
eine sehr außergewöhnliche Liebeserklärung an den New Yorker Stadtteil
Brooklyn.
Die Einladung Wayne Wangs für die
»Retrospektive« sah zunächst wie eine Notlösung aus: Ursprünglich hatte Heinz
Badewitz nämlich eine Regisseurin eingeladen, deren Name in den
Vorabveröffentlichungen nicht genannt wurde, und die kurz vor den Filmtagen
schwer krank wurde, so dass sie nicht kommen konnte.
Wer immer diese Dame sein mag, es stellte sich
dann als großer Glücksfall für die Filmtage heraus, dass Wayne Wang geradezu
begeistert zusagte er ließ dafür sogar einen Festivaltermin in den USA
sausen.
Nicht zuletzt wegen der acht Filme, die Wang im
Gepäck hatte, kann man die 41. Hofer Filmtage doch wieder als einen Erfolg
bezeichnen.