Von Manfred Horn
Vielleicht war es keine gute Idee, dass Intendant Michael
Heicks neben dem ganzen Stress mit der Fertigstellung und Eröffnung des
umgebauten Stadttheaters auch gleich die erste große Schauspielinszenierung im
frisch ummodellierten Haus übernahm. Denn die Inszenierung des Tschechowschen
Kirschgartens wirkt, auch im Vergleich zur Zurschaustellung des
Tschechow-Stückes Platonow, vor zwei Jahren ebenfalls von Heicks inszeniert,
nicht fertig.
Das Premierenpublikum am Freitag Abend reagierte herzlich
und freundlich, doch die großen Ovationen blieben aus. Aus der Bühne des
Stadttheaters wurde kein Kirschgarten, eher ein in zwölf Stücke geschnittener
Kirschkuchen. Sichtbar war das Bemühen, dem Publikum zumindest in Ansätzen die
Möglichkeiten und die Weite der neuen Bühne vorzuführen. Die Bühne, von Annette
Breuer in Szene gesetzt, öffnet sich im Laufe des Spiels, bis sie schließlich
in Gänze und ziemlich nackt zu sehen ist. Mit den Bühnen wechseln die illuminierten
Stimmungen: von kalt zu warm und wieder zurück. Zwischenzeitlich trennt eine
leichte Wand die Fläche, es entsteht eine Vorder- und eine Hinterbühne. Die Hinterbühne
durch ein großes Tor gut sicht-, aber nicht zwingend gut hörbar. Gerade die
Zuschauer in den obersten Rängen hatten teilweise Mühe, dem Spiel auch nur
akustisch zu folgen.
Weniger ist oft mehr
Manchmal, meistens, ist weniger mehr. Denn das Spiel blieb,
nicht nur auf Grund der Tiefe der Bühne, seltsam entrückt, rührte die Zuschauer
nicht im Innersten. Die Schauspieler gaben ihr Bestes, dennoch schien sie etwas
zu trennen, um als Ensemble zu agieren. In den ersten Szenen gar war so etwas
wie eine Verunsicherung zu spüren. Die Tschechowsche Komödie, die zugleich eine
Tragödie und Farce ist, kam nicht richtig in die Gänge, magische Momente waren
Mangelware. Der Kinderchor zu Beginn, die Plastikschweine auf der Bühne, ein
kläffender Hund namens Anton: alles nette Ideen, die für Aktion auf der Bühne
sorgen. Und doch fehlt das große, mit geschickten Händen gewebte Band, dass die
einzelnen Elemente hätte zusammenfügen können.
Dabei ist Tschechows Werk zeitlos. Das letzte Stück des
meisterhaften Beobachters von Untergang und Banalität des russischen Adels,
1904 verfasst, lässt sich gut auf die Gegenwart übertragen. Wertewandel, der
immer auch Zerfall alter Werte bedeutet, ist eine Konstante der Moderne und der
Postmoderne. Die allgemeine Beschleunigung des Lebens verhindert zwar, dass es
eine tradierte und als Klasse gefügte Form wie den Adel als relevante
gesellschaftliche Kraft gibt. Da bleiben für die Transformation zwei
Möglichkeiten: Heute ist die ganze Gesellschaft der Tschechowsche Adel. Oder
aber der Kosmos wird entschieden verkleinert und der Zerfall in die
Beziehungsebene von Familie und Freunden verlegt.
Heicks Inszenierung macht diesen Sprung nicht mit, zumindest
nicht explizit. Der Abschied vom Vertrauten bleibt im imaginierten Raum der
Wende zum 20. Jahrhundert. Die Themen, die sich mit der gegenwärtigen Zeit
genössisch machen, werden trotzdem sichtbar, im Kopf verdichten sie sich hin zu
einem Blick auf die eigene Gegenwart, die auch das »wir« einer Gesellschaft im
Wandel umfasst. Die hoch verschuldete Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Carmen
Priego) steht vor dem Abgrund, der Kirschgarten droht versteigert zu werden.
Doch sie sieht den Abgrund nicht, weil er für sie unvorstellbar ist. Doch
Ranjewskaja ist nicht Jesus. Sie kann nicht übers Wasser wandeln, sie fällt
rein. Ranjewskaja, deren belangloses Leben zwischen Liebhabern und
Geldverschwendung mit dem tragischen Verlust ihres Kindes einen emotionalen
Fixpunkt kennt, der sich tief in ihren Kopf eingebrannt hat, zieht eine ganze
Bande von Verschwendern, Säufern und Zweiflern hinter sich her. Einem Stern,
dem es zu folgen eigentlich nicht lohnt, der aber bis zum Schluss hell
leuchtet, weil er alles Irritierende einfach ignoriert.
Nur noch das Rasierwasser trennt
Die größte Irritation ist zweifelsohne Jermolaj
Alexejewitsch Lopachin (Thomas Wolff), dessen Eltern auf dem Gut, im
Kirschgarten, als Sklaven schufteten und der es, obwohl oder weil er nach
billigem Rasierwasser riecht, mit genauer Kalkulation zu einer reichen Person
geworden ist. Ein Mythos, ein Tellerwäscher der zum Millionär wird, den Tschechow
aber braucht, um den Zerfall der alten Stände zu zeigen. Lopachin hat Geld, folglich wenig Zeit, weil er selbiges ständig vermehren muss die ewige
Wachstumsparabel, die bis in die Gegenwart Gültigkeit hat er hat, und dies
ist außergewöhnlich, auch noch ein Herz. Dieses ist verbunden mit der Familie
Ranjewskaja, einerseits mitfühlend, fast devot, andererseits gebietend, in der
erregten Freude, den alten Sklaventreibern zu zeigen, wo die Kirsche hängt.
Die beiden Figuren, von Wolff und Priego überzeugend
dargestellt, sind der Motor der Geschichte. Ranjewskaja nun wechselt in der
Inszenierung Kleider und Frisuren wie der Wind die Richtung, doch der
verwirrende Schein ist immer wieder leicht auf das Sein zurückzuführen.
Lopachin hingegen hadert mit sich, kauft aber dennoch den Kirschgarten und
stellt damit die alten Verhältnisse auf den Kopf. Der Diener bleibt allein
zurück, seine Dienste werden nicht mehr gebraucht. Mit ihm stirbt auch die alte
Zeit. Ein gültiges Tableau, welches noch bis Weihnachten im Stadttheater zu
bewundern ist.
Alle Termine: www.theater-bielefeld.de