In vielen Betrieben in
Deutschland gibt es gar keine Tarifverträge. Dort werden Armutslöhne gezahlt,
von denen Menschen trotz Vollzeitstelle nicht leben können. Besonders schwierig
ist die Situation im Dienstleistungssektor. Wachleute werden mies bezahlt,
ebenso Servicekräfte in der Gastronomie, Haushaltshilfen oder
Reinigungsdienste.
Kommt nun der Mindestlohn? In
18 der 25 EU-Länder ist er bereits eingeführt, nur in Deutschland noch nicht.
Im Mai hat sich der Bundeskongress des DGB für einen Mindestlohn von 7,50 Euro
ausgesprochen. Überraschend deutlich, denn einzelne Gewerkschaften wie die IG
Metall bevorzugten tarifliche Lösungen. Nun hat der DGB mit der SPD gesprochen.
Am 19. September beschloss der SPD-Gewerkschaftsrat, der aus dem
Partei-Präsidium sowie den Gewerkschaftsvorsitzenden mit SPD-Parteibuch
besteht, einen Stufenplan zum Mindestlohn. Das Ziel sei, dass »alle, die
vollschichtig arbeiten, von dieser Arbeit auch anständig und menschenwürdig
leben können müssen«, sagte der SPD-Chef und rheinland-pfälzische
Ministerpräsident, Kurt Beck, nach der Tagung.
Der Stufenplan sieht vor,
dass zunächst weiterhin tarifliche Lösungen angestrebt werden. Gelingt es
nicht, Tarifabschlüsse für alle Beschäftigten einer Branche über dem
Mindestlohn von 7,50 Euro zu erreichen, soll ein Entsendegesetz greifen. Der
Staat würde dann für eine ganze Branche den Tarif als verbindlich erklären.
Bisher gibt es in Deutschland erst ein Entsendegesetz: Dies regelt die Fälle
einer Entsendung von Arbeitnehmern ausländischer Unternehmen nach Deutschland
in der Baubranche. Nach den Vorstellungen von SPD und Gewerkschaften würde
dieses Gesetz auf die Branchen ausgeweitet, in den nicht alle Beschäftigten
über dem Mindestlohn verdienen würden. Mit einer solchen
Allgemeinverbindlichkeitserklärung würden auch die Unternehmen erreicht, die in
keinem Arbeitgeberverband organisiert sind, um nicht tariflich entlohnen zu
müssen. Auch sie müssten sich dann an den Tarif halten. Das Minimum liegt dabei
bei 7,50 Euro, denn der Staat würde per Gesetz einschreiten und die Unternehmen
zur Zahlung des Mindestlohns verpflichten.
Norbert Reuter, im ver.di
Bundesvorstand für Wirtschaftspolitik zuständig, äußert sich im
WebWecker-Interview zum Sinn des Mindestlohns. Er gesteht ein, dass es den
Gewerkschaften unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum gelingen wird, in allen
Branchen ein Mindestlohnniveau von 7,50 Euro tariflich festzuschreiben. Und er
macht seine Ablehnung gegenüber Kombilohnmodellen deutlich. Der
Wirtschaftswissenschaftler Reuter ist seit über 20 Jahren auch Mitglied der
sogenannten Memo-Gruppe, der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, in
der sich Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftler zusammengefunden haben.
Diese bringt seit 1975 jährlich ein Memorandum für eine soziale
Wirtschaftspolitik heraus, quasi ein Gegengutachten zum Sachverständigenrat zur
Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (»Fünf Weise«). Der
WebWecker sprach mit Reuter im Rahmen der Sommerschule in der ver.di
Weiterbildungsstätte Das Bunte Haus in Sennestadt, die in der vergangenen
Woche stattfand und die sich auf Alternativen zur aktuellen Wirtschaftspolitik
konzentrierte.
Interview: Manfred Horn
WebWecker: Kurt Lauck,
Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, spricht von einem »Anschlag auf die
Beschäftigten« und meint damit den von SPD und Gewerkschaften in der
vergangenen Woche beschlossenen Stufenplan für Mindestlöhne.
Norbert Reuter: Das ist die bekannte Position. ver.di fordert
zusammen mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) den gesetzlichen
Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro. In Deutschland haben wir seit Jahren
rückläufige Reallöhne. Gewerkschaften können in den Tarifauseinandersetzungen
immer schlechter Tariflohnerhöhungen durchsetzen. Während die Arbeitseinkommen
sinken, steigen die Gewinneinkommen. Das hängt mit der strukturellen Schwäche
von Gewerkschaften in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit zusammen.
Soll nun der Staat die
Schwäche auffangen und die Rolle der Gewerkschaften übernehmen?
In gewisser Weise schon.
Lange Zeit haben die Gewerkschaften versucht, ihre Schwächen auch gegenüber
ihren eigenen Mitgliedern zu kaschieren, indem schlechte Lohnabschlüsse noch
verteidigt wurden. So kann man da nicht weiter mit umgehen. Man muss deutlicher
zu den Schwächen stehen. Denn die Gewerkschaften haben nicht versagt. Die
Arbeitgeber sitzen in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit einfach am längeren
Hebel.
Sind die Niedriglohngruppen im Tarifvertrag im
Öffentlichen Dienst, der vor einem Jahr vereinbart wurde, eine solche Schwäche?
Natürlich hätten sich Gewerkschaften, wenn sie die freie
Wahl gehabt hätten, dort und auch in anderen Bereichen andere Lohnabschlüsse
vorgestellt. Insbesondere auch eingedenk der Tatsache, dass die niedrigen Löhne
zu einer niedrigen Nachfrage in Deutschland führen. Und damit auch
mitverantwortlich sind für die Wachstumsschwäche, die Investitionsschwäche und
letztlich für die hohe Arbeitslosigkeit. Da sind wir in einen Teufelskreislauf
hineingeraten. Aus dem kommen wir alleine mit der Tarifpolitik nicht mehr
heraus. Da bedarf es einer Form der staatlichen Unterstützung.
Machen Sie damit nicht
Gewerkschaften wie NGG überflüssig?
Ganz und gar nicht. Der
Mindestlohn definiert ja nur die untere Grenze. Das Tarifniveau wird nach unten
abgesichert, nach oben hin ist es zu gestalten. Es gab eine lange Diskussion
zwischen den einzelnen Gewerkschaften. Die IG Metall etwa sah den Mindestlohn
durchaus als Eingriff in ihre Tarifhoheit. Mittlerweile ist auch die IG Metall mit
im Boot. Erst wenn es in Tarifverhandlungen nicht gelingt, Löhne durchzusetzen,
die zumindest ein Minimum garantieren, greift der gesetzliche Mindestlohn.
Was sieht der Stufenplan
vor?
NGG und ver.di wollten keinen
Stufenplan, sondern die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns für alle
Branchen, 7,50 Euro zunächst, zügig ansteigend auf 9 Euro. Damit würde eine
Schwelle erreicht, die knapp oberhalb der sogenannten Armutslöhne liegt. Der
Stufenplan ist das Ergebnis der Verhandlungen mit der SPD. Wir betonen, dass
alle Komponenten des Plans gleichberechtigt verfolgt werden sollen, je nach
Gegebenheit in der Branche.
Was passiert in den
Branchen, die schon Tarifverträge haben, wie etwa die Leiharbeitsbranche?
Dort hat eine Christliche
Gewerkschaften Zeitarbeit den billigen Jacob gemacht. Liegen die Löhne durch
den Tarif unter 7,50 Euro, greift die Mindestlohnschwelle. Man muss von seiner
Arbeit schließlich leben können. Es geht uns keineswegs darum, das
Entsendegesetz auf alle Branchen auszuweiten. Wenn es gelingt, in den
Tarifverhandlungen oberhalb des Mindestlohns abzuschließen und dieser
Tarifvertrag die gesamte Branche absichert, dann ist es in Ordnung. Eine
Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist sinnvoll, wenn es einen repräsentativen
Tarifvertrag in einer Branche gibt, der oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns
liegt und zugleich viele Arbeitgeber der Branche nicht im Arbeitgeberverband
organisiert sind.
Lässt sich der Mindestlohn
politisch durchsetzen?
In den Auseinandersetzungen
zwischen den Regierungsparteien wird dies nicht leicht. Von der herrschenden
Ökonomie wird bis heute die Meinung vertreten, dass Arbeitslosigkeit ein
Problem der Löhne sei. Daraus folgt, dass das Lohnniveau weiter gesenkt werden
müsse. Die Arbeitgeberverbände sagen nun, dass die Einführung des Mindestlohns
2,9 Millionen Arbeitsplätze kosten würde. Die Zahlen hat das Institut der
deutschen Wirtschaft in Köln geliefert. Die Berechnung ist einfach: Es wurden
einfach die Arbeitsplätze zusammengezählt, bei denen der Lohn unter 7,50 Euro
liegt. Die würden dann angeblich alle wegfallen. Wir haben eine Studie
erstellen lassen, die die Wirkung eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro
modelliert hat. Da zeigt sich, dass es zwar kein Beschäftigungsprogramm ist,
aber auch keine Leute entlassen werden. Mittelfristig können sogar geringfügig
mehr 70.000 neue Arbeitsplätze entstehen. Dies ist möglich über
Nachfrageeffekte. Wenn die Menschen im Niedriglohnbereich mehr verdienen,
stärkt dies die Binnennachfrage in Deutschland.
Wie wahrscheinlich ist ein
Tausch Mindestlohn gegen Kombilohn?
Kombilohn ist keine Alternative. Gewerkschaften werden
sich darauf nicht einlassen. Hartz IV ist ja bereits nichts anderes als ein
Kombilohnmodell. Wir sehen, dass alle Kombilohnmodelle nichts gebracht haben.
Der Kombilohn ist keine Alternative zum Mindestlohn. Mittlerweile ist das
Konsens bis weit in die CDU hinein. Und auch die Arbeitgeberverbände sehen den
Kombilohn mit großem Unbehagen. Durch Kombilöhne entstehen Marktverzerrungen,
wenn der eine Betrieb Kombilohn bekommt und der andere nicht. Auch alle
vorhandenen Studien zeigen, dass der Kombilohn keine Lösung ist. Da ist sich
linke und rechte Wirtschaftspolitik ausnahmsweise relativ einig. Bei Debatten
um die Einführung von Kombilöhnen geht es zur Zeit eher darum,
Lohnersatzleistungen wie Hartz IV noch weiter abzusenken.
Wird es den Mindestlohn
7,50 Euro plus geben?
Es wird früher oder später
einen Mindestlohn in Deutschland geben. Ob man bei 7,50 Euro anfängt, weiß ich
nicht. Die Kompromisslinie könnte sein, etwas niedriger einzusteigen und dann
einen Pfad zu beschreiten, der bei 7,50 Euro ankommt. ver.di wird aber alles
tun, um diese 7,50 Euro als Grenze einzuführen.
Weitere Informationen zum
Mindestlohn: www.mindestlohn.de
Memo-Gruppe: www.memo.uni-bremen.de