Webwecker Bielefeld: »Deutlicher zu den Schwächen stehen« (27.09.2006)

»Deutlicher zu den Schwächen stehen« (27.09.2006)



Norbert Reuter: Die Gewerkschaften werden sich auf den Kombilohn nicht einlassen


In vielen Betrieben in Deutschland gibt es gar keine Tarifverträge. Dort werden Armutslöhne gezahlt, von denen Menschen trotz Vollzeitstelle nicht leben können. Besonders schwierig ist die Situation im Dienstleistungssektor. Wachleute werden mies bezahlt, ebenso Servicekräfte in der Gastronomie, Haushaltshilfen oder Reinigungsdienste.

Kommt nun der Mindestlohn? In 18 der 25 EU-Länder ist er bereits eingeführt, nur in Deutschland noch nicht. Im Mai hat sich der Bundeskongress des DGB für einen Mindestlohn von 7,50 Euro ausgesprochen. Überraschend deutlich, denn einzelne Gewerkschaften wie die IG Metall bevorzugten tarifliche Lösungen. Nun hat der DGB mit der SPD gesprochen. Am 19. September beschloss der SPD-Gewerkschaftsrat, der aus dem Partei-Präsidium sowie den Gewerkschaftsvorsitzenden mit SPD-Parteibuch besteht, einen Stufenplan zum Mindestlohn. Das Ziel sei, dass »alle, die vollschichtig arbeiten, von dieser Arbeit auch anständig und menschenwürdig leben können müssen«, sagte der SPD-Chef und rheinland-pfälzische Ministerpräsident, Kurt Beck, nach der Tagung.

Der Stufenplan sieht vor, dass zunächst weiterhin tarifliche Lösungen angestrebt werden. Gelingt es nicht, Tarifabschlüsse für alle Beschäftigten einer Branche über dem Mindestlohn von 7,50 Euro zu erreichen, soll ein Entsendegesetz greifen. Der Staat würde dann für eine ganze Branche den Tarif als verbindlich erklären. Bisher gibt es in Deutschland erst ein Entsendegesetz: Dies regelt die Fälle einer Entsendung von Arbeitnehmern ausländischer Unternehmen nach Deutschland in der Baubranche. Nach den Vorstellungen von SPD und Gewerkschaften würde dieses Gesetz auf die Branchen ausgeweitet, in den nicht alle Beschäftigten über dem Mindestlohn verdienen würden. Mit einer solchen Allgemeinverbindlichkeitserklärung würden auch die Unternehmen erreicht, die in keinem Arbeitgeberverband organisiert sind, um nicht tariflich entlohnen zu müssen. Auch sie müssten sich dann an den Tarif halten. Das Minimum liegt dabei bei 7,50 Euro, denn der Staat würde per Gesetz einschreiten und die Unternehmen zur Zahlung des Mindestlohns verpflichten.

Norbert Reuter, im ver.di Bundesvorstand für Wirtschaftspolitik zuständig, äußert sich im WebWecker-Interview zum Sinn des Mindestlohns. Er gesteht ein, dass es den Gewerkschaften unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum gelingen wird, in allen Branchen ein Mindestlohnniveau von 7,50 Euro tariflich festzuschreiben. Und er macht seine Ablehnung gegenüber Kombilohnmodellen deutlich. Der Wirtschaftswissenschaftler Reuter ist seit über 20 Jahren auch Mitglied der sogenannten Memo-Gruppe, der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, in der sich Wirtschaftswissenschaftler und Gewerkschaftler zusammengefunden haben. Diese bringt seit 1975 jährlich ein Memorandum für eine soziale Wirtschaftspolitik heraus, quasi ein Gegengutachten zum Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (»Fünf Weise«). Der WebWecker sprach mit Reuter im Rahmen der Sommerschule in der ver.di Weiterbildungsstätte ›Das Bunte Haus‹ in Sennestadt, die in der vergangenen Woche stattfand und die sich auf Alternativen zur aktuellen Wirtschaftspolitik konzentrierte.



Interview: Manfred Horn

WebWecker: Kurt Lauck, Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, spricht von einem »Anschlag auf die Beschäftigten« und meint damit den von SPD und Gewerkschaften in der vergangenen Woche beschlossenen Stufenplan für Mindestlöhne.

Norbert Reuter: Das ist die bekannte Position. ver.di fordert zusammen mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) den gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 7,50 Euro. In Deutschland haben wir seit Jahren rückläufige Reallöhne. Gewerkschaften können in den Tarifauseinandersetzungen immer schlechter Tariflohnerhöhungen durchsetzen. Während die Arbeitseinkommen sinken, steigen die Gewinneinkommen. Das hängt mit der strukturellen Schwäche von Gewerkschaften in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit zusammen.

 

Soll nun der Staat die Schwäche auffangen und die Rolle der Gewerkschaften übernehmen?

In gewisser Weise schon. Lange Zeit haben die Gewerkschaften versucht, ihre Schwächen auch gegenüber ihren eigenen Mitgliedern zu kaschieren, indem schlechte Lohnabschlüsse noch verteidigt wurden. So kann man da nicht weiter mit umgehen. Man muss deutlicher zu den Schwächen stehen. Denn die Gewerkschaften haben nicht versagt. Die Arbeitgeber sitzen in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit einfach am längeren Hebel.

 

Sind die Niedriglohngruppen im Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst, der vor einem Jahr vereinbart wurde, eine solche Schwäche?

Natürlich hätten sich Gewerkschaften, wenn sie die freie Wahl gehabt hätten, dort und auch in anderen Bereichen andere Lohnabschlüsse vorgestellt. Insbesondere auch eingedenk der Tatsache, dass die niedrigen Löhne zu einer niedrigen Nachfrage in Deutschland führen. Und damit auch mitverantwortlich sind für die Wachstumsschwäche, die Investitionsschwäche und letztlich für die hohe Arbeitslosigkeit. Da sind wir in einen Teufelskreislauf hineingeraten. Aus dem kommen wir alleine mit der Tarifpolitik nicht mehr heraus. Da bedarf es einer Form der staatlichen Unterstützung.

 

Machen Sie damit nicht Gewerkschaften wie NGG überflüssig?

Ganz und gar nicht. Der Mindestlohn definiert ja nur die untere Grenze. Das Tarifniveau wird nach unten abgesichert, nach oben hin ist es zu gestalten. Es gab eine lange Diskussion zwischen den einzelnen Gewerkschaften. Die IG Metall etwa sah den Mindestlohn durchaus als Eingriff in ihre Tarifhoheit. Mittlerweile ist auch die IG Metall mit im Boot. Erst wenn es in Tarifverhandlungen nicht gelingt, Löhne durchzusetzen, die zumindest ein Minimum garantieren, greift der gesetzliche Mindestlohn.

 

Was sieht der Stufenplan vor?

NGG und ver.di wollten keinen Stufenplan, sondern die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen, 7,50 Euro zunächst, zügig ansteigend auf 9 Euro. Damit würde eine Schwelle erreicht, die knapp oberhalb der sogenannten Armutslöhne liegt. Der Stufenplan ist das Ergebnis der Verhandlungen mit der SPD. Wir betonen, dass alle Komponenten des Plans gleichberechtigt verfolgt werden sollen, je nach Gegebenheit in der Branche.

 

Was passiert in den Branchen, die schon Tarifverträge haben, wie etwa die Leiharbeitsbranche?

Dort hat eine ›Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit‹ den billigen Jacob gemacht. Liegen die Löhne durch den Tarif unter 7,50 Euro, greift die Mindestlohnschwelle. Man muss von seiner Arbeit schließlich leben können. Es geht uns keineswegs darum, das Entsendegesetz auf alle Branchen auszuweiten. Wenn es gelingt, in den Tarifverhandlungen oberhalb des Mindestlohns abzuschließen und dieser Tarifvertrag die gesamte Branche absichert, dann ist es in Ordnung. Eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung ist sinnvoll, wenn es einen repräsentativen Tarifvertrag in einer Branche gibt, der oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt und zugleich viele Arbeitgeber der Branche nicht im Arbeitgeberverband organisiert sind.

 

Lässt sich der Mindestlohn politisch durchsetzen?

In den Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsparteien wird dies nicht leicht. Von der herrschenden Ökonomie wird bis heute die Meinung vertreten, dass Arbeitslosigkeit ein Problem der Löhne sei. Daraus folgt, dass das Lohnniveau weiter gesenkt werden müsse. Die Arbeitgeberverbände sagen nun, dass die Einführung des Mindestlohns 2,9 Millionen Arbeitsplätze kosten würde. Die Zahlen hat das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln geliefert. Die Berechnung ist einfach: Es wurden einfach die Arbeitsplätze zusammengezählt, bei denen der Lohn unter 7,50 Euro liegt. Die würden dann angeblich alle wegfallen. Wir haben eine Studie erstellen lassen, die die Wirkung eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro modelliert hat. Da zeigt sich, dass es zwar kein Beschäftigungsprogramm ist, aber auch keine Leute entlassen werden. Mittelfristig können sogar geringfügig mehr – 70.000 – neue Arbeitsplätze entstehen. Dies ist möglich über Nachfrageeffekte. Wenn die Menschen im Niedriglohnbereich mehr verdienen, stärkt dies die Binnennachfrage in Deutschland.

 

Wie wahrscheinlich ist ein Tausch Mindestlohn gegen Kombilohn?

Kombilohn ist keine Alternative. Gewerkschaften werden sich darauf nicht einlassen. Hartz IV ist ja bereits nichts anderes als ein Kombilohnmodell. Wir sehen, dass alle Kombilohnmodelle nichts gebracht haben. Der Kombilohn ist keine Alternative zum Mindestlohn. Mittlerweile ist das Konsens bis weit in die CDU hinein. Und auch die Arbeitgeberverbände sehen den Kombilohn mit großem Unbehagen. Durch Kombilöhne entstehen Marktverzerrungen, wenn der eine Betrieb Kombilohn bekommt und der andere nicht. Auch alle vorhandenen Studien zeigen, dass der Kombilohn keine Lösung ist. Da ist sich linke und rechte Wirtschaftspolitik ausnahmsweise relativ einig. Bei Debatten um die Einführung von Kombilöhnen geht es zur Zeit eher darum, Lohnersatzleistungen wie Hartz IV noch weiter abzusenken.

 

Wird es den Mindestlohn 7,50 Euro plus geben?

Es wird früher oder später einen Mindestlohn in Deutschland geben. Ob man bei 7,50 Euro anfängt, weiß ich nicht. Die Kompromisslinie könnte sein, etwas niedriger einzusteigen und dann einen Pfad zu beschreiten, der bei 7,50 Euro ankommt. ver.di wird aber alles tun, um diese 7,50 Euro als Grenze einzuführen.


Weitere Informationen zum Mindestlohn: www.mindestlohn.de

Memo-Gruppe: www.memo.uni-bremen.de