Das Referendum über die EU-Verfassung hat in Frankreich und den Niederlanden zu einem »Nein« geführt. Letztendlich könnten die Volksabstimmungen aber doch ein Gewinn für Europa sein. Denn immerhin setzten sich in den beiden Ländern die Menschen mit »ihrer« Verfassung auseinander, meint Mario A. Sarcletti.Kaum war das »Nein« der Franzosen zur Europäischen Verfassung bekannt geworden, wusste die frisch gekürte Kanzlerkandidatin der CDU, was die Bürger des Nachbarn bewegt hatte. Es sei eine Absage an den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, verkündete Angela Merkel die ihr genehme Sicht der Dinge.
Tatsächlich wollte in Frankreich aber nur die extreme Rechte um Jean-Marie Le Pen das Referendum im Merkelschen Sinn instrumentalisieren und als eine Entscheidung über die EU-Erweiterung missbrauchen. Wer die Bilder der Jubelfeiern in Paris nach dem »No« gesehen hat, weiß aber, dass es viele Bürger aus dem eher linken Spektrum waren, die gegen die Verfassung gestimmt hatten. Sie entschieden unter anderem dagegen, dass neoliberales Denken Verfassungsrang erhält. Denn immerhin verpflichtet Artikel III-177 die Mitgliedsstaaten zur »Einführung einer Wirtschaftspolitik, die ... dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist«. Die Privatisierung öffentlicher Dienste soll vorangetrieben werden, unbeschränkte globale Kapitalmobilität wird zudem als Ziel der Außenwirtschaftspolitik der Union verankert.
Die Niederländer und Franzosen stimmten auch gegen eine Militarisierung der Europäischen Union, für die unter anderem ein eigenes Rüstungsamt geschaffen wird. Das kann eigenverantwortlich Aufträge an die Rüstungsindustrie vergeben, wenn die Staaten nicht genug aufrüsten. Soldaten der EU sollen künftig weltweit eingesetzt werden, auch ohne UN-Mandat. »Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung«, die »Bekämpfung des Terrorismus« oder die »Wahrung der Werte der Union« werden laut Verfassung fortan Gründe für weltweite kriegerische Interventionen »im Dienste ihrer Interessen« sein. Die Mitgliedsstaaten der Union werden verpflichtet, dabei ihre militärischen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen.
Vor allem aber stimmten die Franzosen gegen ein Europa, das von Politikern regiert wird, die sich weit von den Bürgern entfernt haben. Politikern, die glauben, dass sie dem Souverän alle Entscheidungen abnehmen müssen. Wie in der Bundesrepublik, wo die Bürger noch nicht einmal über etwas so gravierendes wie die europäische Verfassung entscheiden durften, geschweige denn sich an ihrer Entstehung beteiligen.
Das Nein der Bürger Frankreichs und der Niederlande bietet die Chance, in diesen Punkten nachzubessern und das ist gut so. Zum Beispiel könnte das Instrument der Volksabstimmung in der Verfassung verankert werden. Die Referenden waren trotz der Ablehnung der Verfassung aber vor allem deshalb ein Gewinn für Europa, weil sich Franzosen und Niederländer mit »ihrer« Verfassung auseinandersetzten. Diese Auseinandersetzung hat hierzulande nie stattgefunden, für die meisten Bundesbürger ist die Verfassung ein Buch mit sieben Siegeln.
Die Einigung Europas kann aber nur gelingen, wenn sie von den Bürgern mitgetragen wird. Ihre Beteiligung an der Entscheidung über die Verfassung ist dafür unerlässlich. Denn auch für Europa gilt die alte Forderung Willy Brandts: »Mehr Demokratie wagen«. Denn sonst wird die EU ein Europa der Technokraten. Und das braucht außer denen keiner.