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Kusmin: Junge Aussiedler fühlen sich oft als Niemand
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Von Manfred Horn»Ich habe hier noch keine Diskriminierung mitbekommen«, erzählt Natalya Feer. Die 26-Jährige lebt seit zehn Jahren in Deutschland, genauer in Bielefeld. Geboren ist sie in St. Petersburg. Sie wanderte mit ihrer Familie als Aussiedlerin aus, die deutsche Abstammung machte es möglich. Natalya Feer studiert Osteuropäische Studien, Slawistik und Wirtschaft an der Universtität Bielefeld. Probleme hat sie keine, zumindest keine, die etwas mit ihrer Herkunft zu tun hätten. Auch ihre Geschwister seien auf einem guten Weg. Sie sind dabei eindeutiger als Natalya Feer: »Sie haben keine Freunde, die aus Russland kommen«. Natalya Feer hingegen ist an dem russischen Teil ihrer Geschichte durchaus noch interessiert, kann sich auch vorstellen, später dort zu arbeiten.
Identitätsprobleme? Für Natalya Feer ein Fremdwort. »Über meine Identität denke ich nicht viel nach«. Sie ist im Zwischenraum angekommen, fährt öfters nach Russland. Sie fühlt sich gut integriert. Was einfach auch dadurch zu belegen ist, dass sie sich die großen Fragen nach Zugehörigkeit, Identität und Kultur gar nicht erst stellt. Sie lebt ganz praktisch und unbewusst die von Wissenschaftlern diagnostizierte Transnationalität (siehe auch:
Interview mit Markus Kaiser).
Natalya Feer ist in St. Petersburg aufgewachsen. Auch da war es normal, dass Kinder ausgebildet werden, die Universität besuchen. »Ich glaube, es ist ein Unterschied, ob Aussiedler aus der Stadt oder vom Land kommen«. Eine Sicht, die Natalie Kusmin, Leiterin des Projekts Sucht und Migration bei der Caritas in Bielefeld, bestätigt. Vehement widerspricht sie aber Pauschalsierungen. Die problemlose Integrationsbiographie Natalya Feers sei eben genauso möglich wie die Geschichten voll von Katasthrophen.
Alkoholabhängigkeit ist ein großes ProblemKusmin ist in Bielefeld Ansprechpartnerin für Aussiedler, die Alkoholprobleme haben. Alkohol ist bereits in Russland Droge Nummer 1. Kommen dann hier Probleme hinzu, wird heftig weiter getrunken oder wieder getrunken. Ein typischer Fall: Dem Verlust des Arbeitsplatzes folgt Alkoholabhängigkeit. »Frauen kommen da besser zurecht«, weiß Kusmin. Entsprechend ist Alkoholismus bei Aussiedlern vor allem ein Männerproblem. Frauen seien nämlich sozial flexibler, offener. Sie lernten schneller die deutsche Sprache. Im Gegenzug verliert der Mann, sollte er auch noch arbeitslos sein, an Bedeutung in der Familie. Er will weiter der Chef sein, ist aber weniger als seine Frau in der Lage, sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu bewegen. Hier macht Kusmin eine Ursache für Alkoholismus aus.
Der Schwerpunkt des Projekts Sucht und Migration, Teil der Psychosozialen Beratungs- und Behandlungsstelle für Suchtgefährdete/-kranke der Cariatas, liegt aber bei jugendlichen Aussiedlern, während sich der Projektpartner, das Bielefelder Rote Kreuz (DRK), mehr um die Erwachsenen kümmert. Kusmin spricht russisch und kommt so an die Jugendlichen heran. Eine neue Entwicklung, weiß sie. Das Projekt gibt es auch erst seit September 2003, sie selbst arbeitet seit drei Wochen in dem Projekt. Lange Jahre wurden die besonderen Zugangsbarrieren in der Sozialarbeit ignoriert: Aussiedler seien ja Deutsche. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, die Jugendlichen dort abzuholen, wo sie stehen: Sie sprechen kaum deutsch, sind oft unfreiwillig mit ihrer Familie nach Deutschland ausgereist.