Webwecker Bielefeld: Culture Crash

Culture Crash



Artikel im Ultimo Uni-Spezial zum Wintersemester 2002 erschienen

Jeden Werktag, abends ab Acht - und am Wochenende schon ab 18 Uhr - kommt es auf den Frequenzen von Radio Bielefeld (98,3 und 97,6 MHz) regelmäßig zum großen Crash der Radiokulturen: im tagsüber massenkompatiblen Dudelfunk kommen nun zumeist spezielle Spartensendungen zur Ausstrahlung. Dann muss nämlich auch bei Bielefelds kommerziellem Lokalradio dem Landesmediengesetz genüge getan werden, und das sieht eben jeden Tag zwei Stunden Sendezeit vor, die den Bielefelder Bürgern zur freien Gestaltung zur Verfügung stehen. Deshalb heißt die Schiene ja auch "Bürgerfunk".

Und so verwundert es auch nicht, dass Radio Bielefeld-Chefredakteur Martin Knabenreich von "Verwerfungen im Programm" spricht. Es gebe halt einen Konflikt zwischen dem großen "Mithörradio" Radio Bielefeld dem "Einschaltradio" der ungeliebten Schwester Bürgerfunk. Während das Programm tagsüber bloß niemanden ärgern, geschweige denn zum Ausschalten bringen soll, wird am nicht-werbefinanzierten Abend naturgemäß nicht ganz so auf die Interesse der Werbekunden geachtet. Die Bürgerfunker müssen, ja wollen extra eingeschaltet werden - auch auf die Gefahr, dass jemand sie dann abschaltet.

Das aber ist der Super-Gau im Programm jedes privaten Radios: die "Durchhörbarkeit" ist ernsthaft gefährdet. Kein Wunder also, dass man als Verantwortlicher des Senders nicht gerade zum Fürsprecher des Bürgerfunks wird. Und so sind dann wohl auch die zahlreichen, teilweise sogar gerichtlichen, Auseinandersetzung der letzten Jahre zwischen Privat-Sender und Bürger-Funkern zu erklären.

Nach über zehn Jahren der knirschenden Koexistenz (und mehreren Wechseln in der Sende-Leitung) macht sich mittlerweile jedoch Gelassenheit beim Frequenz-Träger breit. Der jetzige Chef outet sich sogar als Fan einiger Sendungen, lobt das teilweise "hervorragende" Programm des Bürgerfunks und erklärt "Fördern statt Verhindern" zur neuen Maxime der Zusammenarbeit. Man trifft sich nach sechs Jahren wieder regelmäßig in der AG Bürgerfunk und interessierte Gruppen werden eingeladen, die Arbeitsweise in der professionellen Redaktion kennen zu lernen.

Trotzdem haben manche Produktionsgruppen noch immer mit Akzeptanzproblemen zu kämpfen. Die Rede ist von den reinen Musikmagazinen, und die Schwierigkeiten fangen teilweise schon in der eigenen "Radiowerkstatt" an. Denn obwohl die Musikmagazin-Macher über die "Minutenförderung" (aus Mitteln der Landesmedienanstalt) für den größten Teil der Refinanzierung von Technik und Betreuung verantwortlich sind, haben die "Musiker" bei den Bürgerfunkern der ersten Stunde oft ein echtes Imageproblem. Politische Inhalte, lange Moderationen oder wichtige Studiogespräche werden dann gerne mit "interessantem Radiomachen" gleichgesetzt - wohingegen die Musik-Moderatoren ja eh alle nur Funken, um ihre Musik und natürlich vor allem sich selbst im Radio zu hören.

Die sogenannten "DJ-Sendungen" werden selbst im Landesverband Bürgerfunk nur ungern gesehen und wahrscheinlich schon gar nicht gerne gehört.



Ein Grund mehr, mal eine Woche lang den regelmäßig ausgestrahlten Bielefelder Musikmagazinen auf die Regler zu schauen und vor allem auch zuzuhören.
Den Anfang machen am Montag ab 20 Uhr Joop Kaas und Wallo Wahnsinn mit dem Schwarzen Kanal und der Wahnsinn-Kaas Show. Die beiden Herren sind seit der Stunde Zwei ununterbrochen on Air - tatsächlich bestritten sie die zweite Stunde Bürgerfunk in Bielefeld, vor 11 Jahren - und sind dadurch (und eigentlich auch nur dadurch) zur wahren Institution gereift. Jede Woche gibt es da, neben dem Rückblick "vor 30 Jahren" und dem unvermeidlichen Zerbrechen der "Arschlochplatte" der Woche (es ist, versprechen sie auf ihrer Homepage, nicht immer Phil Collins), wertvollsten Rat und Lebenshilfe ... und zwischendurch halt auch Musik. Ab 21 Uhr reden die beiden dann nur noch (das nennt sich dann Bakalit Radio) ... bis um halb zehn, da dann wahrscheinlich ihre Gruppentherapie beginnt. Der irritierte Hörer atmet auf und wünscht gute Besserung, um sich nun Henrik Wächter und seiner Sendung Auftakt zu widmen. Die nimmt sich nun nämlich eine halbe Stunde lang konzentriert der regionalen Musikszene an und stellt diese auch öfters direkt im Studio vor.

An jedem zweiten und vierten Dienstag im Monat beginnt der Bürgerfunk mit dem Sweet Beat Radio, wo es Ska, Punk, Oi, Psychobilly und Swing zu hören gibt. Moderiert wird von Pierre Damsch und Sven Prante, die selten Interviews führen, aber immer reichlich Infos zu den Jugendkulturen der jeweiligen Musikrichtungen parat haben. Unter dem vielsagenden Titel Die Vinylbesessenen führt dann ab 21 Uhr Hans W. Brinkmann durch seine persönliche Mischung von Musik aller Stilrichtungen, ausgehend von End-60er Platten bis hin zu aktuellen Veröffentlichungen (dann auch nicht notwendig auf Vinyl), die durch überaus ausgefeilte Moderationen routiniert miteinander verknüpft werden.

Musikalisch geht's im Bürgerfunk erst am Donnerstag weiter. Dann gibt es jeweils ab 20 Uhr ein wahres Phänomen zu hören: seit drei Jahren sorgt DJ Fethi mit der Metro FM Simarik Show und seinem türkischen Pop für wahres Entzücken unter den türkischen Hörern. Was in den zwei Stunden genau passiert, ist dem Autor leider aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht bekannt, jedoch soll Fethis Sendung übersetzt Verrückte Show heißen, und 30 bis 40 Hörer-Emails pro Sendung sprechen ja auch für sich. Neben der eigenen Top Ten, die durch die Zuhörer bestimmt wird, gibt es noch Veranstaltungshinweise und Verlosungen.
Auch der Freitag steht fast komplett im Zeichen der Musikmagazine. Jeweils von 20 bis 22 Uhr wechseln sich gleich drei verschiedene Formate ab. Am ersten Freitag im Monat kommen wieder die Jungs von Sweet Beat zum Zug, die unter anderem Veranstaltungen in ihrer Monatsübersicht empfehlen.

Am zweiten Freitag gibt es House Beats On Air mit DJ BastiM, der zusammen mit anderen lokalen DJs aktuelle Neuerscheinungen vorstellt. Veranstaltungshinweise, Verlosungen und Neuigkeiten aus der Szene komplettieren das Packet der ersten Stunde, denn ab Neun kommen die Gäste, genauer gesagt die überregionalen Gast-DJs, die alle ein exklusives Set für Bastian gemixt haben. So gab es in der noch relativ kurzen Geschichte der Sendung schon Mischungen von Tom Novy, Mousse T. oder Moguai, und am 15. November werden sich die Hamburger Disco Boys die Ehre geben.
DJ New Jörg sowie der Autor dieses Artikels versuchen dann jeden vierten Freitag im Rahmen von Breakz die Bielefelder mit fei(n)stem Hip Hop zu verwöhnen, aber auch Service und Information wird durch Veranstaltungstipps und Interviews sichergestellt.



Wer bis jetzt noch nicht richtig ins Wochenende starten konnte, der sollte David Prosenc's Show Clubtalk samstags ab 19 Uhr nicht verpassen. Von Big Beat und Dub über Alternative, Rock und Brit-Pop bis hin zu R'n'B reicht sein musikalisches Spektrum. Fester Bestandteil der Show ist das "Album der Woche", mit der Rubrik "Erweitert Euren Wortschwatz" wird etwas für die Bildung der Hörer getan und beim "Klubgespräch" wird auch nicht auf Vorschläge zur Abendgestaltung (in Form von Veranstaltungstipps) verzichtet.

Jeden dritten Samstag geht's übrigens schon um 18 Uhr los, denn dann sind mit Katrin Gentile und DJ Joe weitere Musikexperten im Studio und präsentieren vornehmlich Dub, House und R'n'B. Und jeden ersten Samstag setzt sich ab 18 Uhr Mario Kliemann's Folk Radio vor den Clubtalk. Seit vier Jahren wird hier die lokale Szene ebenso vorgestellt wie Neuerscheinungen und Klassiker. Mit den überregionalen Konzerthinweisen wird den Freunden dieser vornehmlich akustischen Musik viel Service geboten.

Da es sonntags keine regelmäßigen Musiksendungen gibt, ist es an der Zeit, Resümee zu ziehen: Wer sich einmal mit den vorgestellten Magazinen beschäftigt, also einschaltet, wird schnell feststellen, dass jede Show und jeder Moderator schon viel weiter ist, als nur über die eigene Lieblingsmusik zu reden und sich selbst zu präsentieren. Jeder hat seine spezielle Hörerschaft gefunden und ist Experte auf seinem Gebiet. Das ist vielleicht nicht gut für die "Durchörbarkeit", aber es hört sich verdammt gut an.

Jens Ortmann