Webwecker Bielefeld: Brief von Marija Moissejewna Tortschilo

Brief von Marija Moissejewna Tortschilo



Marija Moissejewna Tortschilo

 

Gebiet Rowno, Ukraine, 8.12.2001

 

Mit besten Wünschen an Ihre Arbeitsgruppe und alle Einwohner Bielefelds!

 

Gottes Segen! für Ihre guten Taten, die Sie zu Friedenszeiten für uns vollbringen. Gott bewahre Sie davor, die schrecklichen Zeiten zu erleben, die ich, Tortschilo (Moltschanowitsch) Marija Moissejewna, erleben musste.


Am 12.X.1942 hat mich mein Großvater (denn mein Vater starb, als ich 9 Jahre alt war) auf Befehl der deutschen Leitung nach Stolino, Gebiet Pinsk (Weißrussland), zum Sammelpunkt gebracht, der mit Stacheldraht umzäunt war. Eine Verweigerung des Befehls hätte für unsere Familie Gefahr der Erschießung bedeutet. Dort hat man uns zwei Wochen lang festgehalten. Ich habe gegessen, was wir von zuhause mitgenommen hatten, danach - wer wenigstens etwas übrig hatte, das haben wir unter einander geteilt. Wir haben in einem Stall schlafen müssen. Nach Deutschland hat man uns in einem Güterwaggon geschickt, wir waren zwei Wochen unterwegs.


Nach der Ankunft ist ein Herr gekommen und hat sich Mädchen für die Arbeit in der Fabrik ausgesucht (Jungs nahm er nicht). Das Werk hieß „Dürkopp-Werke“ und das Lager hieß „Bethlehem“. Ich habe an einer Drehbank gearbeitet. Ich habe meine Vorgaben erfüllt. Mangelhafte Waren durfte man nicht durchgehen lassen, dafür wurde man bestraft. Zu welchem Zweck und wohin die Teile gingen, wurde uns nicht gesagt. Es wurde in Schichten gearbeitet. Aus dem Lager zur Fabrik wurden wir von einem Wachmann gebracht, wir gingen unter einer Brücke durch, oben drüber fuhren Züge. Auf dem Weg zur Arbeit und auf dem Rückweg gab es Appell. Es gab drei Meister. Willi, Echmun, Kurt. Von den Aufsehern wurde verboten, sich bei der Arbeit zu setzen. Im Zimmer standen Etagenbetten, geschlafen haben da bis zu 20 Personen. Wir haben uns mit Decken zugedeckt, Matratzen und Kopfkissen waren mit Holzwolle gestopft. Es stand dort ein Kohleofen, es war aber trotzdem kalt. Wir haben für Sauberkeit und Ordnung gesorgt. Während der Bombenangriffe hat man uns in den „Keller“ geschickt. Bei Bombenalarm hat man „Alarm“ gerufen, der Meister hat das ausgerufen. Pro Tag hat man uns 200 Gramm Brot gegeben, gekochte und sauer gewordene Steckrüben, und noch ein dünnes Süppchen. Kontakte zu der Bevölkerung waren verboten. Auf dem Weg vom Lager zur Arbeit und zurück versuchten uns deutsche Frauen heimlich ein Stückchen Brot zuzustecken und sagten dabei: Vielleicht gibt jemand so etwas auch meinem Söhnchen. Es war gefährlich das anzunehmen, man wurde heftig geschlagen – derjenige, der gab, und derjenige, der es nahm.


Befreit wurden wir von amerikanischen Truppen, sie verteilten Süßigkeiten. Auf dem Weg nach Hause wurde ich zwangsweise von russischen Offizieren aus dem Zug herausgeholt und als Köchin in einer Offizierskantine eingesetzt, wo ich ca. ein halbes Jahr gearbeitet habe. Danach bin ich zu meinem früheren Wohnort zurückgekehrt.


Ich habe Tortschilo Iwan Petrowitsch, geb. 1926, geheiratet, der aus Köln heimgekehrt war, wo er während des ganzen Krieges als Zwangsarbeiter arbeitete. Er hat aber diese Tage nicht mehr erleben können, er starb am 11.03.1990, ohne eine Entschädigung erhalten zu haben.


Nach dem Aufenthalt in Deutschland galten wir als Feinde des Volkes, wir wurden beobachtet und verfolgt. Wir arbeiteten im Wald und auf den Feldern, verrichteten die schmutzigsten Arbeiten. Eine andere Arbeit haben uns die Machthabenden nicht anvertraut.


Die Rente zahlte man mir erst nach der Perestroika in unserem Staat. So ist in Kürze mein Leben verlaufen. Ich habe vier Kinder aufgezogen, die mich in meinen kranken alten Tagen auch betreuen. Das sind meine Tochter Olga und meine Söhne Fjodor, Petr und Wassilij.


Mama hat es uns zuerst auf Deutsch erzählt und sofort übersetzt. Sie kennt die Sprache gut, besser als wir nach der Schule. Da unsere Mama schlecht sieht und Schwierigkeiten mit dem Schreiben hat, ihre Hände zittern nämlich, haben wir ihr diesen Brief von Ihnen vorgelesen und das, was sie uns berichtet hat, nach ihren Worten zu Papier gebracht. Sie war sehr aufgeregt, sie erzählte und weinte, und zwischen ihren Tränen konnten wir irgendeinen kleinen Funken Freude erkennen, dass man Sie nicht übergangen hat und dass es auf der Welt solche Menschen gibt wie Sie...



Der Gesundheitszustand der Mama ist schlecht.
Wir wünschen Ihnen und Ihren Familien Frieden und Wohlsein!

 

Mit freundschaftlichen Grüßen an Sie

 

Marija Moissejewna und ihre Kinder.           

8.XII.2001

 

Im Jahr 2004 wurde Marija Moissejewna Tortschilo zu einem Besuch nach Bielefeld eingeladen. Leider hat sie diese Einladung nicht mehr erlebt. Diese traurige Nachricht teilten ihre vier Kinder mit und fügten hinzu: „Sie wollte sich sehr gern die Plätze ansehen, wo sie, nicht aus freien Stücken, vorbeigehen musste.“