Webwecker Bielefeld: Brief von Anna Petrowna Kowalez vom 7.01.2002

Brief von Anna Petrowna Kowalez vom 7.01.2002



Anna Petrowna Kowalez


    Gebiet Rowno
    Ukraine
    7.1.2002 (E)    

Sehr geehrte Arbeitsgruppe des „Deutschen Gewerkschaftsbundes“,

es schreibt Ihnen eine ehemalige Ostarbeiterin, Kowalez Anna Petrowna.
Ich habe Ihren Brief bekommen, in dem Sie bitten, meine Erinnerungen an die Tage zu beschreiben, als ich während des 2. Weltkrieges in Bielefeld gelebt habe.
Ich wurde am 6. März 1923 im Dorf S[...] Gebiet Rowno (früher Kreis Stolin, Gebiet Pinsk, Weißrussland) geboren. Das Geburtsdatum könnte von den Vorkriegseintragungen abweichen, ich habe keine Schulbildung.
Während des 2. Weltkrieges hat man uns in der Stadt Stolin, Gebiet Pinsk, zusammengetrieben. Das war Anfang Oktober 1942. Man hat uns in einem Stall, umzäunt mit Stacheldraht, gehalten. Und wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, so wurden wir am 12. Oktober 1942 mit einem Güterzug nach Deutschland gebracht.
In Brest führte man uns ins Badehaus, danach wurden wir weiter gefahren. Von Brest ab waren wir über eine Woche unterwegs. Während der Fahrt in Deutschland wurden von Bauern Freiwillige zur Arbeit übernommen, den Rest hat man weiter gefahren.
In Bielefeld kam ein Herr (Pan), nahm nur die Mädchen mit und führte sie zu den Baracken. Wir gingen unter der Brücke durch, oben drüber fuhr ein Zug.
Am nächsten Tag hat uns ein Wachmann mit der Fabrik bekannt gemacht und die Baracken gezeigt. Die Fabrik hieß „Dürkopp-Werke“.
Der Nachname des Obermeisters war mir nicht bekannt, die Brigadiere hießen aber Ustap, Gandrik und Karl. In den Baracken wohnten jeweils 14 Personen auf 2-stöckigen Betten. Es wurden Matratzen und Decken verteilt. Wir haben in zwei Schichten gearbeitet: von 6.00 bis 18.00 und die zweite von 18.00 bis 6.00 morgens. Eine Woche Tagschicht, die andere Nachtschicht. In der Fabrik wurden irgendwelche Teile bearbeitet. Wenn jemand seine Norm nicht erfüllte oder Ausschuss produzierte, so wurde man mit Peitschen geschlagen.
Zu essen hat man uns Kohlsuppe mit Steckrüben und Karotten oder Spinat (etwas Grünes), jeweils eine Schöpfkelle voll, und Kaffee gegeben. Brot bekamen wir zweimal die Woche: samstags und mittwochs (einen Laib für zwei Personen).
In der arbeitsfreien Zeit gingen einige zum Bauern arbeiten, damit er Brot oder irgendwelche Kleidung gab. Meistens hat man aber in den Baracken ausgeschlafen, um bei der Arbeit nicht einzuschlafen. Uns wurde irgendetwas an Geld gezahlt, ich weiß nicht mehr wie viel, allerdings konnte man dafür außer Limonade nichts kaufen. Einige Mädchen gaben ihren Lohn den Deutschen und diese gaben ihnen etwas Gemüse oder Kleidung, aber so, dass es niemand sehen sollte. Es war den Deutschen verboten, mit uns Kontakt aufzunehmen.
Von den Baracken bis zur Fabrik musste man ca. einen Kilometer laufen. An der Pforte mussten wir Karten mit Nummern vorzeigen (die Ankunftszeiten wurden vermerkt). An meine Nummer erinnere ich mich nicht mehr. Vom Lager zur Fabrik konnte man gut laufen, immer den Berg hinunter. Von der Arbeit aber zurück ins Lager - da ging es bergauf, da konnten wir unsere Beine kaum bewegen und mussten mehrmals Pause machen.
Während der Bombenangriffe brachte man uns in den Luftschutzkeller unter der Fabrik. Am Ende des Krieges wurde unsere Fabrik zerbombt und uns hat man in eine ähnliche Fabrik verlegt – die gleichen Maschinen, es wurden die gleichen Teile hergestellt. Dieser Platz hieß Windes-Blejk (ich bin aber nicht sicher, ob die Bezeichnung richtig ist).
Wir haben dort nicht lange gearbeitet, bald wurden wir von den Angloamerikanern befreit. Das war, glaube ich, am 5. Mai 1945. Eine kurze Zeit haben wir noch in den Kasernen der Amerikaner gelebt, fast alle von ihnen waren Schwarze.
Dann hat man uns den Russen übergeben, diese brachten uns wieder zur Arbeit (ich weiß nicht, an welchen Ort), wo irgendwelche Gebäude gebaut wurden. Nach Hause, in mein Dorf, kam ich erst im Oktober 1945. Es stellte sich heraus, dass unser ganzes Dorf am 19. Dezember 1943 von den Faschisten vollständig niedergebrannt wurde. Alle Menschen, auch meine Angehörigen, wurden in einer Kirche zusammengetrieben und angesteckt.
Nach der Rückkehr wurde ich zuhause mehrmals in der Woche ins Kreiszentrum vorgeladen, um auszusagen, wo und was ich in Deutschland gemacht habe. Dabei lag das Kreiszentrum 75 km entfernt, ich musste zu Fuß laufen. 1952 wurde ich zwangsweise in die Region Primorje, Kreis Kalininskij, Siedlung Eldowak, zur Arbeit bei der Holzbeschaffung  geschickt. Ich habe dort ein Jahr gearbeitet, dann stürzte ein Baum auf mich und verletzte meinen Rücken. So wurde ich nach Hause geschickt, in mein Dorf. Bis 1960 hatte ich kein eigenes Zuhause, ich musste bei unterschiedlichen Leuten unterkommen. Ich war nicht verheiratet. Ich habe eine Tochter, Enkelkinder und Urenkel.

Mit Hochachtung

Kowalez Anna Petrowna.

Ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Ihnen mein Schicksal nicht gleichgültig ist. Danke. Herzliche Grüße Ihnen.