Brief von Walentina Wassiljewna Aschichman, eine der Bewohnerinnen des Lagers Bethlehem an den DGB-Arbeitskreis Zwangsarbeit
Ich bin Aschichman, geb.
Umrichina, Walentina Wassiljewna. Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen und
war sehr überrascht, da so viele Jahre vergangen sind und keiner hat sich
jemals für unser Leben in Deutschland interessiert [
]
Erst war ich mir nicht
sicher, und dann habe ich mich doch entschieden, mein Leben kurz zu beschreiben.
Lesen Sie das. Es wird niemandem schaden, davon zu erfahren. Ich will, dass
mein Brief als ein Protest gegen das Wiederaufleben des Faschismus verstanden
wird.
Im April 1942 hat man mich, meine Freundinnen und andere junge Leute aus unserer Stadt zu einem Sammelplatz getrieben. Man hat uns registriert und zum Bahnhof gebracht. Alles geschah plötzlich. Mich hat man direkt vom Wochenmarkt abgeholt, ich hatte nur was ich anhatte, keine anderen Kleider, keine Lebensmittel. Wir haben schon verstanden,
was es bedeutete, aber wir konnten gar nichts ändern. Unter uns war sogar eine
schwangere Frau. Also waren wir die nächste Fracht nach Deutschland. Meine
Mutter, Umirichina Anastassja Iwanowna, hat es erfahren und hat zu Hause
schnell meine Sachen gepackt und ist zum Sammelplatz gekommen. Wir waren schon
fort. Man hatte uns zum Bahnhof getrieben. Von allen Seiten rannten Eltern
herbei und weinten um ihre Kinder. Sie schrieen: Wohin bringen Sie unsere
Kinder? Warum nehmen Sie sie weg? Keiner hat ihnen etwas gesagt, nur ein Wort:
Arbeiten.
Auf uns warteten
Güterwaggons, in denen außer Stroh nichts war. Man hat uns erlaubt, der Reihe
nach und von Deutschen bewacht von den Eltern Abschied zu nehmen. Man hörte nur
Schreien und Weinen. Meine Mutter rannte lange hinter dem Zug her und weinte. Sie
wusste nicht, ob sie mich noch irgendwann wiedersieht. Zwei Wochen vorher hat
man meinen 14-jährigen Bruder mitgenommen. Unser Vater war alt, und nach all
diesen Ereignissen konnte er nicht aufstehen und sich verabschieden.
Wir waren 120 Leute im Waggon.
Wir schliefen wie Vieh auf dem Boden und haben weder Wasser noch Essen
bekommen. Die Schwangere hat um ein Stückchen Brot gebettelt, aber auch sie
bekam nichts. Erst nach dem Grenzübergang haben wir Wasser bekommen. Wir sind
in Peremyschel in Polen angekommen. Da
hat man uns in einen Waschraum geführt und dann uns medizinisch untersucht. Wir
waren alle verängstigt.
Man hat uns in einem
großen
leeren Haus untergebracht. Ich
glaube, es war eine verlassene Fabrik. Die Unterbringung war wie im
Güterwaggon. Wasser bekamen wir zwar und Essen, das den Namen nicht verdiente.
Bald sind Käufer, die Besitzer einer Fabrik,
gekommen und haben für jede von uns 5 Reichsmark bezahlt. Sie luden uns
ein und brachten uns nach Bielefeld. Dort hat man uns
im zweiten Stock einer verlassenen Fabrik
einquartiert und sperrte uns ein. Außer dem Himmel konnten wir nichts sehen.
Wir schliefen wieder auf Stroh auf dem Boden. Ich erinnere mich daran, dass wir
endlich eine richtige Suppe bekamen Ich erinnere mich auch daran, dass, als wir
eintrafen, eine alte Deutsche zu uns kam und unsere Köpfe abtastete. Man hatte
ihr gesagt, dass wir Hörner hätten, und sie kam, um die gehörnten Russen zu
sehen.
Danach brachte man uns zur
Arbeit in die Werkhalle. Das waren die Dürkoppwerke. Ich arbeitete als
Schweißerin. Wegen der schlechten hygienischen Bedingungen bekamen wir Läuse.
Aber keiner hat etwas unternommen. Dann habe ich meine Läuse in einer
Streichholzschachtel gesammelt und bin zum Meister gegangen. Er saß, das weiß
ich noch, am Tisch. Die Läuse habe ich auf dem Tisch verstreut. Er ist vor
Schreck aufgesprungen wie von der Tarantel gestochen. Dafür hat man uns danach ins Bad gebracht und
uns saubere Kleidung gegeben. Wir wurden in Baracken hinter Stacheldraht
umgesiedelt. Da standen zweistöckige Betten, aus Brettern gezimmert. Wir
bekamen Decken und Kopfkissen. Statt
Schuhwerk hat man uns Holzpantinen ausgehändigt. Unser Arbeitstag hat um 7 Uhr
begonnen. Zu Essen bekamen wir Steckrüben und Spinat mit Würmern. Einmal hat
man uns eine Suppe mit Mäusefäkalien gebracht. Das haben wir nicht mehr ausgehalten und haben
protestiert. Danach bekamen wir eine
Kohlsuppe.
Ich möchte gern etwas Gutes über Ingenieur Hampel sagen. Er war ein
guter Mensch und hatte Mitleid mit uns. Oft hat er uns gerufen, so dass es die
Fritzen nicht sahen, und hat uns Suppe
gegeben, die von den Deutschen übrig geblieben war. Meine Freundinnen und ich
haben uns auf dem Dachboden versteckt und gegessen. Herr Hampel war immer so
nett zu uns. Bis heute erinnere ich mich daran.
Unsere Meister Robert,
August, Rudi und Otto waren auch keine schlechten Jungs. Im Gegensatz zu den
anderen haben sie uns nicht wie Vieh behandelt.
Ein paar mal am Tag hat man
uns gezählt. Überallhin hat uns eine Wache begleitet, als wären wir Sträflinge.
So war unser Leben. Wir haben viel erlebt, nur Erholung gab es nicht. Nach der
Arbeit gingen wir in die Baracken. Da hatten wir die Möglichkeit uns zu
waschen. Aber der Hunger ließ uns nicht los. Wir bekamen nur einmal am Tag
Essen. Da wir viel gearbeitet haben und jung waren, wollten wir immer essen.
Sonntags brachte man uns zu Bauern zum Arbeiten. Unter ihnen gab es
verschiedene Menschen. Manche haben uns noch nicht einmal Wasser gegeben, haben
uns russische Schweine genannt und demütigten uns. Andere wiederum gaben uns
Milch zum Trinken. Am Samstag haben wir bis 12 Uhr gearbeitet und danach in der
SS-Schule Kartoffeln geschält. Die SS-Leute waren sehr boshaft, spuckten in
unsere Richtung und schimpften uns russische Schweine.
Ich weiß nicht mehr genau,
ich glaube im Jahre 1944 begannen die Bombardierungen. Alle Baracken brannten
nieder. Man hat uns in einer umgebauten Gaststätte bei einer Frau W.[...]
untergebracht. Sie hat uns leidenschaftlich gehasst. Für 3 ½ Tage bekamen wir
ein Viertel von einem Brotlaib und ein winziges Stückchen Butter. Immer wenn
sie Brot verteilte, hat Frau W.[...] uns gequält und geschlagen.
Einmal hatten wir keine Geduld mehr und haben
zurückgeschlagen. Danach wurden drei von uns zur Gestapo geschickt. Dort hat
man uns verhört und geschlagen.
Und uns
halbtot zur Arbeit zurückgeschickt. Als mich der Meister Rudi so übel
zugerichtet sah, gab er mir sein eigenes Essen und ließ mich nicht arbeiten.
Ich durfte mich hinlegen. Wenn er noch lebt, soll er gesund und glücklich sein,
und wenn er gestorben ist, soll er in Frieden ruhen.
Bei Bombenangriffen haben wir
uns im Wald versteckt. Oft haben wir nachts gearbeitet. Vor den Bombenangriffen
haben die Amerikaner Flugblätter aus den Flugzeugen geworfen, die vor der Bombardierung warnten.
Wir bekamen ein bisschen
Geld, aber dafür konnten wir nichts kaufen. Man hat uns nichts verkauft. Es war
nur erlaubt, uns Rüben und Schuhe zu verkaufen. Wir durften die
Holzpantinen durch Schuhe ersetzen. Man
hat aufgehört, uns mehrmals am Tag zu zählen, wir durften ohne Bewachung in die
Stadt gehen.
Der ständige Hunger, die
Beleidigungen, die Arbeit ohne Erholung, die Sehnsucht nach Verwandten und der
Heimat haben uns zur Verzweiflung gebracht und die Seele zermürbt.
Wir hatten einen Meister, dem
eine Hand fehlte. Der Mann war besonders grausam. Nach einem Vorfall mit ihm haben wir, meine
Freundin Lida und ich und noch zwei Gefangene, uns zur Flucht entschieden. Wir
flüchteten in Richtung Front. Bei einem Bauern
im Stall haben wir uns versteckt. Der Bauer war nicht da. Es arbeiteten dort ein Mann und
ein Mädchen aus Polen. Der Pole hat geholfen, uns zu verstecken. Wir waren
natürlich erschöpft und ausgehungert. Er hat uns Eier und Milch gegeben. Bei diesem Bauern waren wir ungefähr zwei
Wochen. Als wir erfuhren, dass die Amerikaner schon unser Lager befreit hatten,
sind wir zurück nach Bielefeld gegangen. Aus Bielefeld haben uns Amerikaner mit
Lastwagen in das Lager Augustdorf transportiert. Da waren 14 000 von unseren
Leuten. Amerikaner haben uns Essen gegeben und auch Proviant für die Reise. Aus
Augustdorf sind wir nach Rostock gefahren, wo uns die Russen abgeholt haben.
Weiter sind wir mit dem Zug nach Hause gefahren.
Meine Eltern waren außer sich
vor Freude als ich nach Hause kam. Mutter konnte es nicht fassen, dass ich
wieder da war. Sie hat mich immerzu gefragt: Töchterchen, bist du das? Bist du
wirklich gekommen oder träume ich davon?
Es ist schon lange her. Ich
habe viel Freude und Schwierigkeiten in meinem Leben erlebt. Ich bin Rentnerin.
Ich kann nicht sagen, dass ich ein einfaches Leben habe. Bald werde ich 80 (am
13.6.2002). Fast alle sind gestorben, mit denen ich in Deutschland war. All die
Jahre haben wir Kontakt mit einander gehalten, viele habe ich zu Grabe getragen.
Viele waren krank aus Deutschland zurückgekommen. Wir sind nur noch drei, wir
vergessen einander nicht, wir treffen uns ab und zu. Mit 54 bin ich Witwe
geworden. Ich habe zwei Kinder, vier Enkel und zwei Urenkel. Oft erzähle ich
ihnen von meinen Erlebnissen und bete zu Gott, dass sie ähnliches nie erleben
müssen.
[
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So sieht es bei mir aus.
Diesen Brief schreibt meine Nachbarin für mich. Ich würde mich über eine
Antwort freuen.
Ich wünsche Ihnen alles Gute,
Frieden und Glück im neuen Jahr!